Dorfplatz mit Brunnen

[Mercedes Bueno]

Dr. Bueno verkniff sich die Bemerkung, dass diese Reaktion auf den Selenismus jener bei den Bewohnern größerer Dörfer und Städte frappierend ähnelte, denn es gab schließlich Wichtigeres zu besprechen, und so nickte sie zu Beginn nur.
"Nun, er meinte, er habe es sich ausgerechnet." Das war ihr zwar etwas spanisch vorgekommen, aber - madre de Dios - das war doch möglich? "Er wisse halt vom Selenismus, und da schien es ihm logisch, dass eine Expedition hier danach suchen würde. Und auf so eine Idee kommt man doch nicht, wenn es nicht irgendwas in der Nähe gibt, was eine Suche rechtfertigen würde! Allerdings behauptet er, niemals etwas Tempelartiges im Dschungel gesehen zu haben." Sie hob vielsagend die Brauen, nur um dann etwas kleinlich hinzuzufügen: "Und die Inka-Tarnung war die einzige Möglichkeit, eine universitäre Förderung zu finden. Sonst säßen wir alle in Primera." In von Klima-Anlagen temperierten Räumlichkeiten mit deutlich niedriger Insektendichte.

[Des Carter]

"Hm", nachdenklich rieb er sich die unrasierte Wange und notierte ein mentales 'eventuell im Wirtshaus nochmal rasieren'. "Wer weiß schon, wie weit die Dorfbewohner bisher in den Dschungel gegangen sind. Was sollte eine Fischergemeinde auch im Urwald?" Das machte sogar in seinen Ohren irgendwie Sinn. Vermutlich, weil er sich nach wie vor nicht vorstellen konnte, wieso jemand wissentlich eine fantastische, archäologische Entdeckung vertuschen sollte.
Zu den Beweggründen von Rays Lüge äußerte er sich allerdings nicht weiter, unterdrückte bloß einen leicht sickigen Seufzer. Er würde vermutlich nichtmal mit so einer Lüge irgendeine Form von Förderung bekommen, so als schwarzes Schaf des Fachbereiches. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass er nicht auf der offiziellen Teinehmerliste stand. Sonst hätte die Universität die Förderung nachher noch gestrichen.
"Und was haben Sie bisher jetzt hier gemacht mit Ihrem kaputten Huf?" Charmant wie eh und je.

[Mercedes Bueno]

"Nein, laut der Wirtin kommt er ziemlich weit herum in dieser Gegend", korrigierte ihn Dr. Bueno. Herrje, Dr. Carter schien sie wirklich für jemanden zu halten, der sämtliche Informationen unhinterfragt übernahm. Wenn er immer auf einer solchen Basis forschte, war sein wissenschaftlicher Niedergang nahezu ein Glücksfall! Wenn sie allein an diese Theorie dachte, der Selenismus könnte bis in die heutige Zeit überlebt haben... unverständlich. Vollkommen unverständlich. Das hatte ja schon was von einer Verschwörungstheorie!
"Ich habe recherchiert", antwortete sie spitzer als beabsichtigt. "Dieses Dorf mag keine Brutstätte der Forschung sein, aber ich habe begonnen, Interviews mit einem relevanten Personkreis zu führen - den älteren, die auch über Erfahrungen und Erzählungen Kenntnisse haben, die den jüngeren fremd sind. Wie bereits erwähnt: Es gibt hier etwa einen älteren Herrn, der selbst einmal viel gereist ist. Leider", sie verzog das Gesicht, "stimmen seine Erzählungen im Detail nicht mit dem überein, was wir über den Selenismus wissen."

[Des Carter]

"Dann sind die Erzählungen ihrer älteren, relevanten Person entweder doch nicht so relevant oder unsere Informationen zum Selenismus stimmen nicht ganz", er zuckte so dermaßen nonchalant mit den Schultern, als würde er's drauf anlegen Dr Bueno aus der Haut fahren zu sehen. Eigentlich wollte er keine Zickigkeit mit Zickigkeit bekämpfen - mal abgesehen davon, dass ihm Divenhaftigkeit so gar nicht stand - aber so recht warm werden konnte er eben nicht mit einer 'Forscherin' die ihr Wissen aus Kindergedichten zog. Das klang zu sehr nach schlechtem Hollywood-Horror. Er erinnerte sich dunkel an Rays Brief, in dem er ihm von Bueno berichtet hatte und ja, vermutlich ging die Dame tatsächlich zum lachen in den Keller.

"Also haben Sie quasi mit dem halben Dorf gesprochen, ja? Sonderlich viele Einwohner hat das Örtchen hier ja nicht." Und es blieben nur die Alten übrig, wenn die Jungen alle auf das Internat gingen.

[Mercedes Bueno]

"Niemand kann ausschließen, dass es Dinge über den Selenismus gibt, die uns noch gänzlich unbekannt sind." Hatte sie sich gerade nicht noch darüber gefreut, dass sie nicht allein in den Dschungel ziehen musste, sondern ihr das Schicksal einen - in diesen Belangen - kompetenten Begleiter geschickt hatte? Was für ein Schwarzseher! Musste der jeden Erfolg, den ein anderer erzielte, gleich kleinzureden versuchen? Innerlich drückte Dr. Bueno Desmond einen dicken Stempel mit dem Schriftzug 'Egoist' auf die Stirn. Narzist vermutlich obendrein, Träger diverser Minderwertigkeitskomplexe, die er durch Selbstdarstellung auszugleichen versuchte. Jawohl. Nun, sobald er sie zu Professor Williams gebracht hatte, gab es vielleicht eine Möglichkeit, ihn an der Fortführung ihrer temporären Zusammenarbeit zu hindern.

Sie hob die Brauen, denn ihre Ergebnisse zu kritisieren, war das eine - ihre Methoden eine ganz andere. "Ich weiß nicht, wie Sie Recherchen betreiben, Dr. Carter, aber ich führe meine Interviews gründlich. Natürlich habe ich noch nicht mit jedem älteren Einwohner gesprochen." Einige hatten schließlich auch ganz offensichtlich den Verstand verloren.

[Des Carter]

"Bedauerlicherweise betreibe ich seit einigen Jahren eher selten Recherche im allgemeinen, was Ihnen allerdings vermutlich bekannt sein dürfte." Vermutlich wäre Des einem gewissen Maß an Selbstdarstellung nichtmal abgeneigt, wenn man ihm denn die Gelegenheit dazu geben würde. Seit er aus der Liga der ganz großen Archäologen geschmissen worden war - aus Gründen, die ihm nach wie vor vollkommen unverständlich waren - hatte er nur wenig Gehör bei irgendwem gefunden und einen Großteil seiner persönlichen Forschunsgergebnisse an Ray weitergeschickt, dem man wenigstens die Möglichkeit gab, weiter auf dem Gebiet zu arbeiten. Ein Umstand, der Des nun schon ein ganzes Weilchen verwehrt blieb. Sicher lebte ein Forscher von seiner Forschung und nicht von deren Publikation, aber auch Forschung wollte finanziert werden. Dass nicht er, sondern Ray einen Großteil gewisser Lobpreisungen abbekommen hatte, machte ihm dabei reichlich wenig aus, weswegen von Narziss eigentlich keine Rede sein konnte.
"In wie weit unterscheiden sich die Erzählungen dieses Herrn denn von unseren Informationen?" Mal sehen ab welchem Punkt sie nicht mehr mit ihm reden wollte.

[Mercedes Bueno]

Ja, das waren doch immer die besten Kritiker: die, die von der Materie, die sie kritisierten, so kaum noch Ahnung hatten. Ein schmales, säuerliches Lächeln musste genügen, um Des ihre Meinung dazu zu verraten. Konzentrierte sie sich also lieber auf Oscar Jones' Erzählungen, die ja immerhin auch sehr - farbenprächtig gewesen waren.

"Der gravierendste Unterschied besteht darin, dass es Abweichungen vom klassischen Metall gibt", erzählte sie zögerlich. War es eine gute Idee, einem Mann mit solchem Ruf wie Dr. Carter die Flausen über immense Goldschätze in den Kopf zu setzen? "Er berichtete von größeren Ansammlungen von Reichtümern - durchaus möglich, wenn es sich dabei um Kult- und Opfergegenstände handelt." Sie zuckte mit den Achseln und beschloss, Desmonds Augen eindringlich im Blick zu halten. Sobald metaphorische Dollarzeichen darin aufblitzen würden, musste sie das Thema irgendwie abwürgen. "Seinen Schilderungen zufolge handelte es sich allerdings um Gegenstände aus Gold."

[Des Carter]

"Gold?" Außer Überraschung war rein gar nichts in seinem Blick erkennbar. Keine Dollarzeichen, nichts. Er interessierte sich nicht für irgendwelche Schätze, er tat das alles hier nicht für Geld. "Nun, das ist tatsächlich eine Abweichung." Nachdenklich kratzte er sich im Nacken. Es dürfte mehr als schwierig sein, in diesem entlegenen Winkel der Welt an Gold heranzukommen. Bisher war die Forschung der Theorie gefolgt, dass die Selenisten überwiegend Silber für ihre Schmuckstücke verwendeten. "Unmöglich ist es natürlich nicht, allerdings tut sich da die Frage auf, wo man hier Gold finden könnte." War das Terrain gut genug untersucht worden, um Adern auszuschließen? Oder stammte das Gold aus den Gegenständen anderer Kulte und Völker und die Selenisten waren in der Vergangenheit wahre Schatzsucher gewesen? Ein paar Ideen kamen ihm da sicherlich, aber keine war spruchreif. "Was hat er noch erzählt?"

[Mercedes Bueno]

Das Ausbleiben von Geifer beruhigte Dr. Bueno zumindest in Ansätzen. Auch wenn Professor Williams ihn nie als gierig beschrieben hatte - konnte man einen Hang zur Illegalität bei seiner Vita von der Hand weisen? Bestimmt nicht mit letzter Sicherheit!
"Es wäre nicht unmöglich, Gold zu beschaffen. Dort, wo San Palabra jetzt ist, war schon früher ein Handels- und Umschlagplatz. Das Gold könnte also im Tausch gegen andere Waren erstanden worden sein. Oder womöglich ist es erst in den Zeiten der Konquista zusammen mit den Spaniern aus anderen Ländern hergebracht worden; Beutegut aus Peru oder Mittelamerika." Dr. Bueno zog die Brauen hoch. "Dieser Tempel hier muss etwas Besonderes sein; von keinem anderen gibt es bisher so deutliche Hinweise in Märchen, Liedern und anderen Überlieferungen. Unter Umständen sind wir auf der Suche nach einem El Mirador oder einem selenistischen Machu Picchu."
Sie befeuchtete sich die Lippen. "Die übrigen Erzählungen von Senor Jones beinhalteten zahlreiche frühere Schachpartien und Abendessen im Kreis seiner Mitabenteurer: bekannte Namen fielen dabei nicht. Aber Sie sollten seinen Wohnraum sehen: ein einziges Museum voller Fotos und Artefakte. Für eine gründliche Untersuchung wäre gewiss mehr Zeit und mehr Personal nötig, aber unter Umständen besitzt er neben seinen sehr blumigen Erinnerungen auch handfestes Material, das von Interesse ist."

[Des Carter]

So ungern er es zugeben wollte, ihre Theorie machte tatsächlich Sinn. Möglichkeiten an Gold zu kommen waren also gegeben und der Brand anfang der 80er könnte eine von vielen Erklärungen sein, wieso es kaum Funde gab, die auf Goldschmuck hinwiesen. Wenn besagtes Gold überhaupt je in irgendwelchen selenistischen Schätzen gefunden worden war.
"Meinen Sie, der Senor lässt uns nochmal in sein Haus, wenn sie mal nett mit den Wimpern klimpern?" Nein, er konnte es nicht lassen. Er wollte es auch gar nicht wirklich, dazu machte es zu viel Spaß. Aber diese beeindruckende Privatsammlung von Senor Jones wollte er dann doch zu gerne einmal sehen. Und das wenn möglich auf legale Weise, auch wenn Bueno ihm vermutlich zutrauen würde, im Notfall bei dem armen alten Mann einzubrechen.