Dorfplatz mit Brunnen

[Mercedes Bueno]

"Dr. Carter!" Ah, jetzt wusste sie, was nicht stimmte: Er sah älter aus als auf den Bildern von Unternehmungen, die früher im Büro von Professor Williams gehangen hatten. Er hatte viel über ihn erzählt - offenbar war Dr. Carter jemand, der einer geregelten Arbeitsweise und präziser wissenschaftlicher Forschung nicht soviel abgewinnen konnte, wie gedankenloser Herumabenteuerei, was ihn in Dr. Buenos Weltanschauung immerhin auf eine Stufe stellte mit dekandenten Geldscheinverbrennern und Bauern, die die Milch ihrer Kühe wegschütteten, weil sie dafür ein paar Cents zu wenig erhielten. Die Freude über des Rätsels Lösung wich aus Dr. Buenos Lächeln, das noch während des Händeschüttelns höflich wurde.
"Ja, das wäre ich auch, wenn mich ein dummer Unfall nicht daran gehindert hätte." Sie deutete auf ihre Krücke, die sie an den Brunnen gelehnt hatte. "Nun hänge ich seit zwei Tagen in diesem - Dorf fest. Aber was tun Sie hier?" Sie zog die Brauen fast tadelnd hoch. "Soweit ich weiß, waren Sie doch nicht im Stande, Professor Williams eine Zusage für diese Unternehmung zukommen zu lassen?" Nicht, dass sie darüber sehr traurig gewesen wäre. Dr. Carters Wissen über die Selenisten in allen Ehren - abgesehen von dieser abstrusen Theorie über ein Fortbestehen des Kults bis in die Jetzt-Zeit - aber er war doch eher ein Hallodri als ein ernstzunehmender Forscher!

[Des Carter]

Wenn sie ihm jetzt noch sein gefühltes Alter bestätigte, würde er sie vermutlich liebevoll mit ihrer Krücke erschlagen und hinter irgendeiner Hütte verbuddeln. Und ja, auch ein eher sanftmütiger Kerl wie Des war zu so etwas in der Lage, auch wenn man es ihm vielleicht nicht ansah.
"Nicht im Stande? Hat er das so ausgedrückt?" Er grinste leicht. Typisch Ray, der einfach nicht direkt sagen konnte was Sache war. Zumindest nicht immer. Wegen dieser selektiven Genauigkeit waren sie bei vergangenen Forschungen schon das ein oder andere Mal aneinander gerasselt, aber allgemein waren sie stets auf einer Wellenlänge gewesen. "Sagen wir, ich war zu Beginn nicht ganz mit Professor Williams Ausdrucksweise einverstanden." Inka-Tempel. Jah, er ritt darauf herum, aber eigentlich war das nichts anderes als eine Beleidigung für eine großartige Kultur, auch wenn Ray ihm seine Beweggründe erklärt hatte. "Jedenfalls hab ich spontan meine Meinung geändert und bin nachgereist. Tut mir übrigens Leid mit Ihrem Fuß. Wann sind Sie denn wieder aufbruchbereit?"

[Mercedes Bueno]

"Nein, das war meine Wortwahl." Ein höflicher Mensch hätte jawohl gleich zu Beginn sein Bedauern über ihre Verletzung ausgedrückt! Aber das passte in ihr Bild von ihm. Jemand, der spontan einer Expedition nachreiste - herrje! Vermutlich hatte er nicht einen einzigen Antrag ausgefüllt und besaß keine einzige der notwendigen Bescheinigungen. Kein Wunder, dass seine universitäre Karriere niemals begonnen hatte.
Sie blickte auf ihren Knöchel herab, verzog das Gesicht und bewegte unsicher die Schultern. Ja, hätte es hier einen Arzt mit einer präzisen medizinischen Diagnose gegeben... "Ich hoffe bald. Morgen oder spätestens übermorgen." Immerhin war der Fuß schon viel besser geworden. "Sobald ich alle nötigen Vorbereitungen getroffen und einen Führer.. oh." Sie brach ab und blickte zu Des. Sicher war er doch nicht nur nachgereist, um jetzt hier zu bleiben. "Wann wollen Sie denn aufbrechen?" Es wäre natürlich eine Möglichkeit des hoffentlich missglückenden Selbstmords, die sie noch nicht bedacht hatte. Nur wenn die Alternative zur Reise mit ihm war, in diesem ungastlichen Dorf auf die Rückkehr der Expedition zu warten, wagte sie doch lieber ihr Leben!

[Des Carter]

Weia, die Frau hatte ja tatsächlich den Charme einer Käsereibe. Ray hatte nicht übertrieben in seinen Briefen. Vermutlich eher das Gegenteilt.
"Ich? Sobald wie möglich. Geplant war morgen früh. Wies-" Und es klingelte. Und für einen Moment rollten sich ihm die Zehennägel hoch. Sicher, er war prinzipiell höflich - auch wenn sie das nicht glauben wollte - und zuvorkommend und wohlerzogen und zur holden Damenwelt sowieso meistens sehr viel freundlicher, wobei ob er sie wirklich als Dame bezeichnen wollte wusste er ohnehin noch nicht so wirklich. Aber eine Wanderung mir Dr Wenn-Sie-mich-lächeln-sehen-wollen-müssen-Sie-mir-schon-die-Mundwinkel-an-die-Schläfen-tackern? Weia.
"Sind Sie denn sicher, dass Sie schon wieder reisen können? Ihre Humpelei grade war ja nicht grade elegant." Gut, vielleicht war er doch nicht sooo wohlerzogen.

[Mercedes Bueno]

"Nun, morgen wäre in der Tat sehr früh." Dr. Bueno befeuchtete ihre Lippen und blickte nachdenklich auf ihren Knöchel. Natürlich hatte er heute morgen schon viel weniger geschmerzt, und er hatte sich auch nicht mehr ganz so dick angefühlt. Womöglich lag es ja nur daran, dass sie heute so viel gelaufen war... aber das würde im Dschungel ja kaum weniger sein.
"Es käme natürlich auch auf die Strecken an. Nur wissen Sie, es ist wahnsinnig schwer, hier jemanden zu finden, der bereit wäre, mich zu begleiten!" Sie hob die Brauen und sah Desmond in der unerschüttlichen Gewissheit an, dass ihn das genauso entsetzen würde wie sie. "Die meisten legen mir nahe, zurück nach San Palabra zu reisen, und ich habe mir schon diverse Geschichten über Raubkatzen anhören müssen... allerdings gibt es da auch einen alten Herrn, der meinte, schon einmal an einem Tempel hier in der Gegend gewesen zu sein.." Sie spürte, dass sie abzuschweifen drohte. "Einen weiteren Tag Verzögerung könnten Sie doch vielleicht riskieren. Sonst muss Professor Williams am Ende noch ganz auf meine Unterstützung verzichten, und er braucht mich." Immerhin kannte niemand die Schriftzeichen so gut wie sie!

[Des Carter]

"Nein, wirklich?" Niemand wollte sie begleiten. Na aber hallo, wieso das denn nicht? Dabei war sie doch so ein Sonnenscheinchen. Memo: er würde von Ray sowohl die Kohle wiederbekommen, die Garcia ihm abgeschwatzt hatte, wie auch Schmerzensgeld dafür, dass er nun Bueno an der Backe hatte. Wieso war die Frau nicht wirklich nach San Palabra gereist? Soooo unentbehrlich konnte sie nun wirklich nicht sein, auch wenn er ihre Übersetzungen der Kinderlieder beeindruckend gefunden hatte. Nur würde er ihr das mit Sicherheit nicht mehr sagen.
"Ein Tag Aufenthalt wird schon nicht schmerzen", er lächelte etwas schief und fragte sich, was bei ihm schief gelaufen war, dass er doch nicht durch und durch chauvinistisches Arschloch sein konnte, wie sein Vater ihm irgendwann mal geraten hatte. "Vielleicht sollten Sie darüber nachdenken, Ihren Knöchel mal behandeln zu lassen." Wobei, so wie er Bueno einschätzte war die schon längst mit Antibiothika vollgepumpt und mehrfach gegen Tetanus geimpft.

[Mercedes Bueno]

Die Höflichkeit wurde durch Erleichterung ersetzt. Sie hatte tatsächlich einen Führer gefunden! Vermutlich kannte er sich mit Raubkatzen aus und konnte ein Feuer machen und die allerschwersten Sachen tragen - perfekt. Sie hatte zwar nicht vor, ihn zum Maulesel zu degradieren, aber der Erfolg eines Unternehmens stellte sich doch dann am ehesten ein, wenn jeder nach seinen Fähigkeiten eingesetzt wurde.
"In diesem Dorf ist die Auswahl an medizinischem Fachpersonal nicht sehr umfangreich. Es gibt eine Dame, die als Hebamme fungiert, und falls Sie zufällig ein Schwein oder ein paar Hühner mit verdorbenem Magen besitzen, wird Ihnen...", hach, jetzt hatte sie den Namen vergessen, "..irgendwer sicher fünf Behandlungsmethoden zukommen lassen, aber ein geschwollener Knöchel wird hier höchstens mit einer Kräuterpaste bestrichen." Sie rümpfte die Nase. Gut, sie hatte in der letzten Nacht wahre Wunder bewirkt, und sie würde Ruby eventuell erneut um etwas davon bitten.
"Kennen Sie sich mit Raubkatzen aus?"

[Des Carter]

"Vielleicht sollten Sie einer dieser Kräuterpasten mal vertrauen. Die wirken hin und wieder wirklich Wunder." Schlimm wenn er Bueno einfach mal freundlich als Fachidioten abstempelte? Er zweifelte nicht an ihrer Kompetenz, nein, so unfair war Des nicht, aber die Frau hatte ungefähr so viel Dschungelerfahrung wie Rays Tochter, schien dabei aber um einiges pingeliger zu sein. Eigentlich selten, dass Des einen Menschen bereits innerhalb weniger Minuten unsympathisch fand.
"Mit Raubkatzen? Man sollte sie besser nicht verärgern", gut, vermutlich war der Witz auch völlig für'n Arsch. Zumindest würde er Bueno reichlich wenig beeindrucken. "Wieso Raubkatzen?"

[Mercedes Bueno]

Hatten die sich eigentlich alle mit der Kräutermischung verschworen? Nun, sie würde ihm nicht mitteilen, dass sie seinen Rat bereits befolgt hatte. Das ging ihn ja auch, wenn man es einmal genau nahm, überhaupt nichts an.
"Ich hatte gerade ein Gespräch mit jemandem, der hier in der Gegend wohl sehr viel reist, und er warnte mich eindringlich vor Raubkatzen, die derzeit in dieser Gegend äußerst aktiv wären." Ein wenig beunruhigt hatte sie das dann doch, und man konnte das auch von der kleinen Falte über ihrer Nasenwurzel ablesen, wenn man sie einigermaßen kannte, sowie an den sacht verkniffenen Mundwinkeln. "Besitzen Sie ein Gewehr, Dr. Carter?" Sie musterte ihn nachdenklich, als erwartete sie, dass er es hinter seinem Rücken versteckt hielt. Sein Rucksack war für sie noch unsehbar hinter dem Brunnen verborgen. "Für den Ernstfall, meine ich?" Schließlich würde man gegen eine große Raubkatze doch sicher auch ein großes Gewehr brauchen!

[Des Carter]

Gut, Raubkatzen gab es im Dschungel tatsächlich, aber er hatte bei keiner seiner Reisen festgestellt, dass die Biester besonders gefährlich oder angriffslustig waren. Tatsächlich waren es eher glückliche Zufälle gewesen, wenn sie eins der Tiere mal zu Gesicht bekommen hatten.
"Ein Gewehr?" Verdutzt musterte er sie einen Moment. Übertreiben konnte Madame ja mal völlig ungeniert. "Ein Gewehr besitze ich nicht. Aber ich hoffe eine recht großkalibrige Pistole genügt Ihnen auch." Und ja, auch das würde notfalls eine Großkatze ausknocken, auch wenn er bezweifelte, dass er das Ding je benutzen würde. Höchstens um Dr Bueno in den anderen Fuß zu schießen.
"Ich will nicht respektlos erscheinen Dr Bueno, aber ich denke da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden. Es gibt Raubkatzen, aber die sieht man kaum." Wie gesagt: Fachidiotin.