Wirtshaus

[Mercedes Bueno]

Sie erwartete halbgare Entschuldigungen, vielleicht einen Versuch, sich auf Ortskenntnis oder sonstwas herauszureden, aber als Javier das Wort 'selenistischen' in den Mund nahm, war es, als ginge ein Stromschlag durch ihren Körper. Mit keinem Wort hatte sie das eigentliche Ziel ihrer Expedition erwähnt! Woher wusste er davon? Wer hatte sich verplappert? Waren das Spätfolgen von Delia Sanchez' unbedarften Umgang mit ihrem Wissen? Oder - das wagte Dr. Bueno sich kaum vorzustellen - kannte dieser Mann den Tempel, hatte entgegen seiner bisherigen Versicherungen vielleicht schon einmal zwischen den Ruinen gelagert oder sich dort mit seinen wenig zivilisierten Freunden die Zeit vertrieben? Wusste er, wo er lag?

Ihr Mund fühlte sich trocken an, und unwillkürlich begannen ihre Finger zu der Tasche zu wandern, in der sich ihr Notizblock verbarg. "Selenistisch?", wiederholte sie, ohne den Blick von Javier zu lassen. "Wer hat etwas von einem selenistischen Tempel gesagt, Senor Javier? Haben Sie etwa schon einmal einen gesehen?"
Hach, die letzte Frage hätte sie nicht stellen sollen, konkretes hatte ihn bisher doch immer verschreckt!

[Oscar Jones]

Oscar nippte an seinem Glas Brandy und genoss mit Blick in die weite Ferne den herrlichen Genuss auf seiner Zunge. So ein Brandy war doch ein Feuerwerk der Geschmackserlebnisse. Ach, er konnte sich noch daran erinnern, als er seinen ersten Schluck genommen hatte, damals als er mit Harold den Alkoholschrank seines Vaters aufgeknackt hatte. Wie abscheulich es damals schmeckte. Aber die Begeisterung über diesen Kinderstreich, die würde er nie vergessen, es hatte den Brandy um einiges aufgewertet.
Schön, dass die Geschmacksgene in der Familie lagen, stellte er mit einem stolzen Blick auf seine Nichte fest. Und die Begeisterung an Abenteuer.
"Kind, der Dschungel..." Er ließ das Wort einige Sekunden im Gastraum stehen, ehe er sich Perceptua wieder konzentriert zuwandte. "Ist.." Ja was wollte sie eigentlich hören? "abenteuerlich.. Ein Moment." Mit ernsthaftem Blick musterte er Perceptua. "Hast du vor, in den Dschungel zu gehen?"

[Javier Santos]

Was hat er da gesagt??? SELENISTISCH?
Das ärgerte ihn enorm und am liebsten würde er nun sehr grantig werden...Hätte er nicht einfach nach einer kurzen, freundliche, abweisenden Antwort das Weite suchen können, anstatt sich auf ein Gespräch eintzulassen? Javier riß sich zusammen, um eine scheinbar freundliche Antwort geben zu können.
"Doktor Bueno- natürlich leben wir hier weitab von Klimaanlagen, Schmerzmitteln und was weiß ich nicht noch Unabdingbaren...Aber stellen Sie sich vor, es gibt Bewohner aus Atempo, die sich dennoch Kultur aneignen und tatsächlich den Dschungel verlassen haben in Richtung Zivilisation. Diese Theorie," wobei er das Wort Theorie betonte, " des Selenismus ist mir bekannt und ich habe einfach eins und eins zusammengezählt. Aber ich kann mich auch irren. Das ist sicher keine überzeugende Theorie für eine Wissenschaftlerin wie Sie. Ich muß Ihnen übrigens recht geben." Er führte das allerdings nicht weiter aus. Irgendwie war sein Kopf leer und sein Mund trocken. Er schaute sich (innerlich)verzweifelt nach Ruby um.
"Mein Glas ist leer, wo ist bloß die Wirtin?" sagte er. Er stand auf.

[Ruby Pires]

Die Wirtin hatte sich bereits vor geraumer Zeit in den Schankraum verkrümelt und Pläuschchen mit diversen Gästen gehalten. Zum einen um Javier nicht in irgendeine, vermutlich eher halbgare aber gut gemeinte Parade zu fahren, zum anderen um ein wenig Abstand zu Dr Bueno zu bekommen, die der sonst so geduldigen und lammfrommen Ruby inzwischen doch gehörig auf den Senkel ging. Zeitdruck stresste eben sogar die halsstarrige Madame und dass die Dottore inzwischen schon das halbe Dorf belästigte war ihr irgendwie peinlich.
Just in dem Moment, in dem sie sich schäkernd und lachend umdrehte, erhob sich Javier von seinem Platz. Fragend hob sie die Augenbrauen, entschuldigte sich für den Moment bei ihren Gästen und wanderte gemütlich zur Bar zurück. Irgendwas war hier passiert und sie wollte vermutlich gar nicht wissen was. Hoffentlich hatte Bueno ihm nicht irgenwas entlockt, was ihr irgendwie helfen würde.
"Darf es noch was sein, Herrschaften?"
Einfach lächeln, immer lächeln.

[Mercedes Bueno]

Dr. Bueno öffnete schon den Mund, um zu protestieren - natürlich war das eine überzeugende These, man durfte nur nicht so borniert sein wie mancher Wissenschaftler, der vergessen hatte, dass die Basis von Wissenschaft immer im Glauben an das Mögliche und die Ausweitung des Unvorstellbaren zu finden war - aber wollte sie das wirklich mit Javier ausdiskutieren? Die Ironie seiner Aufzählung unverzichtbarer Dinge hatte sie schlicht nicht verstanden, sie hätte gern noch Deo und ein vernünftiges Wegesystem hinzugefügt, aber vielmehr faszinierte sie, dass er schon einmal etwas über Selenismus gehört hatte. Obwohl ihr erster Hoffnungsschimmer, hier auf eine Goldader gestoßen zu sein, sofort wieder verglüht war, war doch die Tatsache, dass der Begriff hier bekannt war, etwas Positives. Vielleicht lebten in diesem Dorf sogar Nachfahren der früheren Selenisten! Das konnte man doch nicht ausschließen?
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie nachhaken? Sollte sie es auf sich beruhen lassen? Sollte sie ihm vielleicht unverschämt viel Geld für eine Nacht bieten - in der er ihr alles erzählen konnte, was er über den Selenismus gehört hatte, wo er es gehört hatte, und darüber, was er im Dschungel bisher alles erlebt hatte? Seine Naturburschen-Erfahrungen durch die Brille einer gewieften Wissenschaftlerin betrachtet würden doch sicher neue Erkenntnisse bringen!

Die Hintergrundgeräusche im Wirtshaus, die Gesprächsfetzen über Fische und Babys und Wetter und See, dräuten sich in Dr. Buenos Gehör zusammen, und als Ruby zu ihnen trat, erkannte Dr. Bueno, dass sie tatsächlich etwas brauchte: ein bisschen Ruhe. "Ja, ich brauche etwas frische Luft." Sie stemmte sich hoch und packte ihre Krücke fester. Perceptua war im Gespräch mit ihrem Onkel... nein, auch dazu brauchte sie einen freien Kopf. "Senor Javier, ich würde mich freuen, wenn wir unser Gespräch später fortsetzen könnten", sagte sie etwas gestelzt; dann humpelte sie hinaus ins Freie.

tbc: Dorfplatz

[Perceptua Jones]

"Ich? In den Dschungel ? Nein!" sagte Perceptua mit Nachdruck. "Onkel Oscar!" Sie schüttelte entschieden den Kopf. Oder doch? Wollte sie nicht doch ein ganz kleines bißchen...? Wie war das noch - romantische Wasserfälle? Ach, nein... es ging eher um Viehzeug, krabbelndes, beißendes... versagende Deodorants, keine Wassertoiletten! Gut das hatte sie hier in Atempo auch.
Natürlich war sie an superior Komfort gewöhnt, aber als Ausgleich und Flucht gewissermaßen mochte sie es auch pur. Griechenland superior ist nicht das Erleben von Griechenland, was sie suchte. Als Beispiel. Andererseits wollte sie sich nicht überschätzen... also nein, nein. Mercedes würde sowieso keinen Führer finden!
"Nein, Onkel Oscar. Ich will nicht in den Dschungel." Und doch log sie ein bißchen.
"Würdest du mir denn dazu raten?" fragte sie lächelnd. Aus den Augwinkeln sah sie, wie Mercedes und dieser Javier ihr Gespräch wohl beendeten. Es schien nicht erfolgreich gewesen zu sein, ihren Gesichter nach zu urteilen.

[Javier Santos]

Javier sah Mercedes Bueno mit gemischten Gefühlen nach und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. War es gut oder schlecht das sie aufhörte zu fragen? Gut! Endlich war sie weg!
"Ruby...." Er sah halb flunschziehend, halb hilfeheischend Ruby an. Er hatte tatsächlich einen ganz trockenen Mund.
"Ich will hier weg!" sagte er halblaut zu Ruby und beugte sich vor! "Komm mit!"
Der Tempel würde ihm Ruhe geben, die Gemeinschaft der Tempelwächter und Priesterinnen... Keiner würde den Tempel finden!
Erstens weil Mercedes Bueno keinen Führer fand, sie mit ihrem Bein sowieso nicht weit kam... und überhaupt. Er konnte nicht sagen warum er sich sicher fühlte, nach diesem Kauderwelsch, aber es war so. Er mußte einfach zurück!

[Ruby Pires]

"Was, jetzt?"
Ihre Überraschung konnte sie grade nur schlecht verbergen. Dass das Gespräch mit der Dottore nicht allzu fröhlich verlaufen war, hatte sie sich schon denken können, allerdings gab sie da teilweise Javier selbst die Schuld, weil er ja unbedingt hatte quatschen wollen. Das es so schlimm gelaufen war allerdings...
Wortlos stellte sie ihm ein Gläschen ihres berühmten Maracujaschnapses vor die Nase. Irgendwie sah er grade so aus, als bräuchte er etwas stärkeres, als bloßen Eistee.
"Mal so eben zusammenpacken und losziehen kann ich nun auch nicht." Sie sah sich im propevollen Schankraum um, die Hände in die Hüften gestämmt und schüttelte kaum merklich den Kopf. "Hältst du es bis morgen noch aus? Sonst wander eben schon vor, ich find den Weg auch alleine." Schließlich wanderte sie ihn bereits seit einigen Jahren recht regelmäßig. Der Zeitdruck machte ihr inzwischen auch zu schaffen, aber sich einfach so verziehen? Nachher erweckte eine überstürzte Abreise nur das Interesse von Frau Doktor Nervtötend.

[Javier Santos]

Javier ließ den Kopf sinken, schaute aber wieder auf und lächelte."Ja, morgen reicht." Er schob den - zwar sehr hübsch aussehenden Schnaps weg. Wo war nur seine Ruhe hin? Machte ihn die Sorge um den Tempel mürbe? Es war nicht sein Vertrauen in die Selenen, was Risse bekam-das hielt er für unerschütterlich- nur daß man nicht wußte... Aber es mußte ja alles gutgehen. Gleich morgen zurück im Tempel, konnten sie alles besprechen und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen ergreifen. Vielleicht wußten die anderen inzwischen ebenfalls mehr. Seine Kollegen Tempelwächter wollten sich ja auch umschauen.
Er erhob sich erneut und verabschiedete sich von Ruby, mit nochmals enschuldigendem Blick. "Ich werd zu Mama Santos, die freut sich mich mal wieder unter die Fittiche nehmen zu können." lachte er. "Bis morgen!" Mit einem warmen Lächeln nickte er Ruby zu und verließ das Wirtshaus.

[Oscar Jones]

Oscar Jones betrachtete seine Nichte interessiert. Steckte in ihr eine Abenteurerin?
Er hatte immer den Eindruck gehabt, als wäre sie die typische Nestwärmerin, welches er trotz seiner Vergangenheit ihr auch nicht übel nahm, nein, das traf es noch nicht. Er schätzte sie dafür. Ja ja, er war sogar stolz auf sie. Natürlich erschienen die Frauen mit dem Abenteuerglitzern immer sehr interessant, aber so richtig wertschätzte er die Frau, die ihm auch mal zuhört, anstelle immer nur von ihren Projekten zu reden.
Aber was war das? Flammte da das Abenteuer in ihren Augen auf? Oscar grinste, so ganz war das Abenteuergen in der Familie also doch nicht wegzudenken.
"Kind, ich denke," hob Oscar an. "Jeder seine eigene Entscheidungen treffen. Aber vielleicht reicht ein Tagesausflug in den Dschungel auch erstmal aus."