Steg

[Narracion]

Der hölzerne Steg, der in das aquamarinfarbene Wasser der Bucht ragt, bietet Platz für mehrere kleine Schiffe, Fischerboote, Katamarane oder auch Wasserflugzeuge. Die Bohlen sind von den vielen Füßen, die im Laufe der letzten Jahre pber sie hinweggegangen sind, blank poliert, während sich an den Pfählen Muscheln und Tang angesammelt haben.

Abgesehen von diesen Pfählen, die auch genutzt werden, um ein ankerndes Boot zu vertauen, gibt es keine Möglichkeit, sich beim Übergang von einem schwankenden Boot auf den Steg festzuhalten. Zur Vorsicht hängt daher an den meisten Pfählen eine Leine mit ein paar Korken für den Auftrieb, die im Notfall jenen, die ins Wasser gefallen sind, zugeworfen werden kann.

Ganz in der Nähe des Stegs liegt der Frachtunterstand. Auch zum Haus der Verwalters ist es nicht besonders weit.

[Narracion]

[Miguel Bolivar]

Miguel hörte den Motor lang bevor er das Schiff sah. Er war mit seinem leichten Kanu unterwegs, schon seit dem frühen Morgen, und es war ein ziemlich erfolgreicher Fang gewesen. Gleich zweimal war sein Netz voller Fische gewesen, darunter ein paar richtig grosse Brocken, für die er soviel Geld kriegen konnte, dass er bis nach seiner Rückkehr vom Tempel ausgesorgt hatte. Damit blieb ihm jetzt genügend Zeit, sich vorzubereiten und auf den Weg zu machen. Diese erfreulichen Gedanken allerdings wurden von besagtem Motorengeräusch unterbrochen, und als er mit dem Kanu um die nächste Biegung paddelte, sah er das Boot: die MS Caminate, kurz vor dem Steg des Handelspostens.

Sie war kein ungewöhnlicher Anblick hier in der Gegend; was ihn hingegen die Stirn runzeln liess, war der Anblick der vielen Leute auf dem Deck. Normalerweise wäre er an dem Steg vorbei gepaddelt, aber nun packte ihn die Neugier. Wer war das? Und was wollten die hier? Ein Blick auf die Fische im Behälter aus Eis zeigte ihm, dass er es sich erlauben konnte, kurz zu stoppen, um sich das mal anzusehen, bevor er sie aus der Sonne und zum Markt bringen musste. Miguel paddelte sein Kanu zum Steg, vertäute es auf jener Seite, welche die Caminate nicht ansteuerte, kletterte hoch auf das Holz und guckte erwartungsvoll auf das sich nähernde Boot mit den Fremden.

[Garcia Blanco]

cf: Haus des Verwalters

Der Boden zwischen seinem Haus und dem Steg war um diese Tageszeit, ehe der große Regen runterging, fast so fest wie Felsgestein, weshalb Garcias Stock hart aufschlug und er trotz des hinkenden Beins flott vorankam, während er das sich nähernde Schiff im Auge behielt. Was könnte er denn gut gebrauchen? Eigentlich ja alles, aber ein paar neue Zeitschriften wären nett. Oder eine gute Palette ausländischen Biers. Allerdings bestellte das kaum wer aus dem Dorf; das letzte Mal, dass er eins getrunken hatte, musste schon Jahre her sein!

Garcia stutzte, als er aus den Augenwinkeln Bewegungen wahrnahm, und als er sah, dass es keineswegs optische Störungen, sondern einer dieser Dorfheinis war, der da auf den Steg kletterte, verzog er das Gesicht. Scheiße. Wenn jetzt was Gutes an Bord der Caminante war, war der da doch sicher gekommen, um es in Empfang zu nehmen. Mist, Mist, Mist.

"Olá", begrüßte er Miguel, kaum dass er in Rufweite war, und humpelte mit verbissener Miene näher. "Erwartest du was?"

[Miguel Bolivar]

Miguel war so auf das Boot konzentriert gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte wie sich der Verwalter näherte. Stattdessen war er damit beschäftigt, die Leute an Deck der MS Caminate zu zählen. Da waren ne Menge Weisse... und Frauen, mehrere Frauen. Dazu reichlich Material. Was hatten die vor?

Als Garcia ihn ansprach, schrak er ein bisschen zusammen und drehte sich ihm zu. "Holà", antwortete er und fragte sich reflexartig, ob er hier vielleicht störte. Ob der Verwalter ihn wegjagen würde, wenn er jetzt mit Nein antwortete? Aber er konnte ja schlecht Ja sagen, schliesslich erwartete er nichts. "Nein...", sagte er schliesslich zögernd, "...ich hab' mich nur gewundert, dass so viele Leute auf dem Boot sind." Er warf wieder einen Blick zu dem sich nähernden Schiff. "Weisst du, was die hier wollen? Und wer die sind?" Dann fiel ihm noch was Cleveres ein. "Vielleicht haben die ja Hunger und sind an ein paar Fischen interessiert", fügte er an mit einem Seitenblick auf sein Kanu mit dem fetten Fang.

[Garcia Blanco]

Erleichtert hob Garcia einen Mundwinkel an. Wenn der nichts erwartete, nahm er doch sicher auch nichts für irgendwen mit! So musste das sein; so klimperten neue Scheinchen in seiner Kasse - auch wenn sie bei genauer Betrachtung nicht klimpern, sondern höchstens rascheln würden.

Wie Miguel warf auch er einen Blick hinüber zur Caminante. Ziemlich voll, zumindest für eine normale Fuhre. Klar, wenn das Schiff die Dorfblagen von der Schule fürs Wochenende nach Hause schiffte, dann saßen da auch mal mehrere Leute, aber bei reiner Fracht erwartete er eigentlich nur den Kapitän, seine Nichte und den Steuermann.

Irritiert runzelte Garcia die Brauen. "Weiß nicht", brummte er einsilig. "Vielleicht 'nen Familienfest?"
Aber wüsste der da dann nicht davon? Die Dörfler hockten doch alle aufeinander, und untereinander kungelten doch sicher auch die verschiendenen kleinen Örtchen, die sich in der Bucht verstreuten und zum Großteil aus Fischern bestanden.

[Miguel Bolivar]

Mh. Dass der Verwalter auch nicht wusste, was es mit all den Leuten auf sich hatte, machte es nur umso spannender. Offenbar erwartete auch er nichts - und er müsste es doch eigentlich wissen, oder? Vielleicht waren sie ja wirklich daran interessiert, ihm ein paar Fische abzukaufen? Auf jeden Fall gab ihm das einen guten Vorwand hier zu stehen und zu versuchen, ein bisschen mehr über die Gruppe rauszufinden.

Miguel zog die These mit dem Familienfest kurz in Betracht. "Ja... vielleicht." Aber die Leute da an Bord sahen nicht aus wie welche, die hier Familie hatten. Und warum sollten Gringos hierher kommen, um irgendwelche Feste zu feiern? Die Augen des jungen Fischers wanderten über die Personen, die immer besser zu erkennen waren, je näher das Boot kam.

[Garcia Blanco]

Klang jetzt nicht so, als wüsste der was von einem Familienfest in der Nähe. Nachdenklich ließ Garcia den Blick zwischen Miguel und der Caminante hin und her wandern. Wenn die nicht gleich plappernd und lärmend weiter zu irgendeinem Kaff ziehen würden - und wenn Miguel nicht hier war, um die Bagage abzuholen, würden sie das auf eigene Faust machen müssen, was bedeutete, dass die entweder aus der Gegend kamen oder sich zumindest hier auskannten oder aber lebensmüde Vollidioten waren, die einen Dschungel mit einem Botanischen Garten verwechselten - naja, wenn die nicht gleich wieder weiterzogen, würde das ja heißen, dass sie hier bleiben würden.

Die Vorstellung verschlug Garcia für einen Moment den Atem. Er lebte hier allein. Nicht gerne, aber wenigstens in Ruhe und Frieden! Er hatte keine Gesellschaft, und das war auch gut so, weil ihn so niemand nerven konnte, und sie nervten doch alle. Aber das konnte ja eigentlich gar nicht sein, beruhigte er sich selbst. Was sollten die hier schon wollen? Niemand kam freiwillig hier her, der nicht völlig den Verstand verloren hatte.

Schließlich blieb sein Blick an Miguels Fang hängen. Was hatte der gesagt? Verkaufen wollte er den? Plötzlich lag der lockende Duft einer Einnahmequelle in der Luft. Garcia befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze, grinste anschließend wissend und deutete mit der Spitze seines Stockes auf Miguels Fang. "Du willst das Zeug also verkaufen, ja? Hier?" Er hob die Brauen. "Hast du da 'ne Lizenz für?"

[Miguel Bolivar]

Miguels Blick war unverwandt auf dem näherkommenden Boot, so dass ihm nicht weiter auffiel, welche Gefühlsregungen der Mann direkt neben ihm durchmachte. Er sah vier Frauen und zwei Männer, eine der Frauen gehörte zum Boot, Teo oder so, sie hatte er schon ein paar Mal gesehen. Alle anderen waren Fremde. Und sie sahen wirklich nach Gringos aus, auch wenn es da und dort möglicherweise einen Latina-Einschlag gab. Tagesausflügler, die einen Dschungelspaziergang machen wollten? Vogelbeobachter? Die gab es ab und zu, aber die hatten immer Ferngläser um den Hals...

Als der Verwalter dann plötzlich sprach, unterbrach er Miguels Gedankengänge und hatte sofort seine Aufmerksamkeit. Der junge Fischer runzelte die Stirn. "Eine Lizenz?" fragte er misstrauisch. Miguel hatte zugegebenermassen hier am Handelsposten noch nie Fische verkauft, das tat er sonst nur in Atempo. Aber von sowas wie einer Lizenz hatte er noch nie gehört. "Hab' ich nicht. Brauchts auch nicht." Es klang selbstbewusst, aber ganz sicher konnte er da natürlich nicht sein. Vielleicht galten hier andere Regeln, es war immerhin ein Handelsposten, und der Typ war quasi der Chef hier.

[Garcia Blanco]

Garcia schnaubte abfällig. Braucht's nicht. Der hatte ja Nerven. "Braucht's doch", erklärte er fest. "Sonst kann ja jeder kommen und hier fischen. Ist ja eine Umweltzone." Er grinste nicht undreckig, während er sich auf seinen Stock stützte. "Aber du hast Glück; ich kann dir 'ne Sondergenehmigung besorgen. 50 Prozent deiner Einnahmen, und du kannst verkaufen, was du willst. Sonst kannst du 100 Prozent deiner Fischverkäufe vergessen."
50 waren vielleicht hoch gepokert, aber Garcias Anfangsgebote waren nie zu niedrig, sonst ging er am Ende noch ärmer heim als er gekommen war. Die Fische brachten sicher kein Vermögen, aber ein paar Dollar mehr waren nie zu verachten, selbst wenn sie ohne große Gesellschaft kamen.