Selenismus als Kult und Lebensweise

[Narracion]

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Selenismus war nie “Massenkult” - selbst in den Hochzeiten versammelten sich kaum mehr als ein paar hundert Menschen zu den Ritualen an einer Tempelanlage. Jeder Tempel funktionierte und funktioniert bis heute eigenständig.

Jeder der vier Selenen ist eine Priesterin geweiht (da es in der Mehrzahl Frauen waren/sind, zählt Priesterin hier als geschlechtsneutrale Bezeichnung; auch Männer können Priester sein). Die vier Priesterinnen bildeten einst gleichzeitig die weltliche wie spirituelle Führung der Gläubigen der besagten Anlage. Heute sind sie spirituelle Anführerinnen und bestimmen auch in wichtigen Fragen den Weg; weltlich halten sich die Selenisten allerdings an die Gesetze und Regeln von Narracion.

Die vier Priesterinnen sind gleichberechtigt. Jede leitet in einem Quartal (in einer Jahreszeit) das jeweilige große Ritual im Tempel; darüber hinaus sind sie ganzjährig als Ansprechpartnerinnen und Beraterinnen da, führen die täglichen Rituale im Verborgenen stellvertretend für alle Gläubigen durch, denen dies nicht möglich ist, und müssen in Fällen der Bedrohung des Tempels handeln. Die Art und Häufigkeit der gemeinsamen Treffen unter den Priesterinnen ist dabei von Tempel zu Tempel unterschiedlich.

Es gibt kein eindeutiges Erkennungsmerkmal der Priesterinnen; viele tragen eine Kette mit einem runden Anhänger als Symbol des Vollmondes, aber solche Ketten sind auch bei Nicht-Priesterinnen weit verbreitet. Allen gemein ist aber in der Regel eine kraftvolle Stimme und die Gabe, gut reden zu können.

Während der Rituale sind ihre Gesichter in der Regel unverhüllt, selbst dann, wenn sie de facto als Verhüllte leben, und sie tragen ein weißes, meist mit Silberfäden geschmücktes Gewand, das sich in Schnitt und Ausschmückung wiederum von Tempel zu Tempel, manchmal auch von Priesterin zu Priesterin unterscheidet.

Priesterin wird man auf vier hoch vier eigene Quartale (64 Jahre), aber alle vier Jahre kann eine Priesterin entscheiden, ihr Amt aus persönlichen Gründen aufzugeben. Da die meisten Priesterinnen erst mit Ende zwanzig geweiht werden, erreichen wenige Priesterinnen die vollen 64 Jahre. Wer Priesterin wird, entscheiden die letzten vier Priesterinnen gemeinsam - oder im Todesfall die übrigen drei Priesterinnen. Das Amt ist nicht vererbbar (auch wenn seit der Geheimhaltung oft enge Angehörige vorgeschlagen werden, da diese vertrauter in ihrem Wesen sind); ausgewählt wird ein Mensch, der die vier Tugenden (Besonnenheit, Geduld, Tapferkeit, Willensstärke) in sich trägt, das Vertrauen der Priesterinnen genießt und neben einem festen Glauben und dem Wissen der Traditionen rhetorisches Talent sowie Ausstrahlung besitzt, um die Rituale halten zu können. Meist bemühen sich die Priesterinnen, in ihrem Quartett eine gewisse Ausgeglichenheit des Alters zu erreichen: Im Idealfall sind von jung bis alt alle Altersstufen unter den Priesterinnen vertreten. Die eigentliche Weihe der neuen Priesterin geschieht drei Monate vor dem ersten eigenen Ritual (für die Priesterin des Wintermonds also beim Riual des Herbstmondes); schon vorher kann sie allerdings als auserwählte Kandidatin die Aufgaben der zu ersetzenden Priesterin übernehmen (vor allem, wenn die Vorgängerin verstorben ist).



In der Regel wird der Selenismus vererbt - wer eine selenistische Mutter hat, ist selbst Teil des selenistischen Kultes. Seit der Selenismust im Geheimen ausgeübt wird, werden Kinder allerdings nicht gleich eingeweiht - zu groß ist die Gefahr, dass sie sich verraten könnten. In Liedern, Märchen, Spielen und dem gelebten Alltag werden ihnen unauffällig allerdings Inhalte und Bräuche bereits vermittelt.

Der Moment der Einweihung kommt frühestens mit der Pubertät. Ausschlaggebend ist bei Jungen der Stimmbruch, bei Mädchen die erste Menstruation. Meist wird im Vorfeld eine Priesterin darum gebeten, ihre Einschätzung darüber zu geben, ob das Kind bereit ist, das Geheimnis zu wahren. Es liegt allerdings letztendlich bei den Eltern, ob und wann sie den Schritt gehen, das Kind einzuweihen oder nicht. Ist das Kind erst einmal eingeweiht, wird es beim nächsten Vollmond-Ritual feierlich in den Kreis der Selenisten aufgenommen. Natürlich ist es auch möglich, jemanden erst später einzuweihen.

Auch Außenstehende können Teil des Kultes werden (meist Lebenspartner von Selenisten oder Kinder, deren Väter Selenisten und deren Mütter Außenstehende sind). Voraussetzung ist dafür, dass die Priesterinnen gemeinsam zu dem einstimmigen Urteil kommen, dass der Kandidat spirituell geeignet und natürlich auch fähig ist, das Geheimnis zu wahren. In diesem Fall muss sich auch mindestens eine Person (im Idealfall vier, darunter eine Priesterin) bereiterklären, den Außenstehenden als Pate in die Denk- und Lebensweise einzuführen. In der Regel dauert dies vier Jahre (bei Kindern: vier Monate).



Einst war das Rad des Mondes die größte und schönste Tempelanlage von Narracion. Die Gläubigen kamen von weit her, um zum Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermond hier an den Ritualen teilzunehmen. Daher ist das Rad des Mondes auch eine der wenigen Tempelanlagen, zu denen Reisebeschreibungen verbreitet waren - meist in Form von Liedern oder Geschichten, weil diese mündlich tradiert besser zu merken waren.

Heute hat der Kult in der Boccacciobucht etwa 50 bis 70 Gläubige, die verstreut in den kleinen (illegalen) Fischerdörfern in der Bucht, in San Palabra oder unverhüllt im Dschungel leben. Bis zu zwei Wochen vor den Ritualen beginnen die Gläubigen, zum Rad des Mondes zu reisen, wo sie von den Unverhüllten aufgenommen werden; der Großteil reist allerdings erst ein oder zwei Tage vorher an - getarnt als mehrtägiger Fischfang, Geschäftsreise, Abenteuerurlaub usw. Auch die vier Priesterinnen leben verteilt in der Boccacciobucht und treffen meist nur zu den Ritualen zusammen.



Jeweils zum Vollmond im ersten Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermonat finden große Rituale statt, die als Höhepunkte des selenistischen Kalenders gelten. Sie dienen zwar auch zum Austausch zwischen den Verhüllten und Unverhüllten (um sich an Verstorbene zu erinnern, neue Mitglieder aufzunehmen, sich über Sorgen oder Gefahren zu beraten), in erster Linie haben sie aber spirituellen Charakter. Während der Rituale werden die Selenen um ihren Rat und Schutz gebeten, ihnen werden Geschenke gemacht und die Priesterinnen berichten, was die Selenen ihren Gläubigen über die Sterne mitteilen lassen.

Die Rituale beginnen nach vollständigem Sonnenuntergang mit einer Einführung der neuen Selenisten (ein Segen der Priesterin, anschließend bilden alle Anwesenden einen Kreis, indem sie sich an den Händen fassen). Anschließend folgen sie je nach Jahreszeit einem anderen Ablauf. Dabei beinhalten sie aber immer Feuer/Fackeln, verstreute Asche bzw. Blüten, die Übergabe der Kunst (Tanz, Gesang, Vortragen von Texten und Gedichten, Präsentation von Kunstwerken, die anschließend meist den Göttern übergeben (=vernichtet) werden), Phasen des Schweigens und den Ringtausch von Steinen, die bestimmte Kräfte symbolisieren. Sie enden offiziell mit dem Sonnenaufgang - in der Regel bleiben die Unverhüllten beim Feuer zurück, um darauf zu achten, bis es bei Sonnenaufgang von ihnen gelöscht wird; die meisten Verhüllten kehren wesentlich früher heim.

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