Narracion - Geschichtlicher Abriss

[Narracion]

Narracion war nur dünn besiedelt. Statt in großen Städten lebten die Einheimischen in kleinen Dörfern und trafen sich nur zu den religiösen Ritualen in den verstreut im Land liegenden Heiligtümern und Tempeln. Da die Rituale nachts stattfanden, blieb am Tag Zeit für Handel, Tratsch und allgemeine Volksfeste. Die Menschen lebten vom Fischfang, der Jagd und dem, was die Natur ihnen lieferte. Ackerbau oder Viehzucht waren nicht stark ausgeprägt; die Natur sorgte für die Menschen und musste nicht erst dazu gebracht werden. Schon zu dieser Zeit entwickelten sich aber Kunst, Kultur und Wissenschaft, insbesondere Astronomie, Mathematik und Physik. Beachtlich ist dabei, dass Sklaverei oder Menschenopfer nie eine Rolle in der Kultur von Narracion spielten: Stammesführerinnen und (seltener) -führer herrschten in einem feudalen System, dessen Einzelheiten im Lauf der Geschichte leider verloren gingen. Kriegerische Auseinandersetzungen waren selten; Konflikte wurden gern mit der Übergabe von Geschenken gelöst, die in besonders wichtigen Fällen aus dem kostbaren Silber gestaltet waren, das in den Bergen Narracions liegt und an den heiligen Trabanten erinnert.



Mit der Eroberung und Erschließung Narracions durch die Spanier änderte sich das Leben für die einheimische Bevölkerung enorm. Mit Waffengewalt wurde das herrschende System aufgelöst, eine Zwangschristianisierung begann und überall dort, wo die Europäer sich Gewinn versprachen, entstanden große Siedlungen und Städte. Während sich die Selenisten nach vergeblichen diplomatischen Versuchen in die Wälder und in den Untergrund zurückzogen, ihre heiligen Orte geplündert und zerstört wurden und mit jedem Jahrzehnt die alte Kultur mehr in Vergessenheit geriet, führten die Europäer Viehzucht und Ackerbau ein, schlugen Minenschächte in die Berge und legten den Grundstein für die heutigen "Großen Städte" Narracions. Die Einheimischen fanden sich in der Leibeigenschaft oder Sklaverei wieder, doch da Narracion außer den Silberadern wenig Bodenschätze hatte, die Plantagen in anderen Ländern fruchtbarer waren und die Landschaft in einigen Teilen schwer zu bereisen schien, verloren zumindest jene Spanier das Interesse an dem kleinen Land, die Profit über alles schätzten. Dennoch war nach zweihundert Jahren der Eroberungen und Erkundungen von den ursprünglichen Strukturen nicht mehr viel erhalten.





Obwohl das Land über keine großen Bodenschätze verfügte, wurde es Ziel verschiedener europäischer Kolonialinteressen. Insbesondere Strafgefangene, aber auch politisch verfolgte Freidenker verschlug es hierher. Man hielt das Land für weitestgehend kulturlos; erstaunlich war nur, dass insbesondere Freiheits- und Gleichheitsgedanken und viele wissenschaftliche Ansätze auf fruchtbaren Boden fielen. Die LaBotta-Universität (gegründet 1789), die sich zunächst vor allem astronomischen Fachgebieten zuwandte, sorgte für die Bildung wissenschaftlicher Zirkel und Schulen im ganzen Land. Gleichzeitig wurde die Sklaverei abgeschafft, die faktisch schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts kaum mehr praktiziert worden war, und im 19. Jahrhundert setzte ein großer Historismus ein, der erste Versuche unternahm, der verlorenen Kultur und Geschichte nachzuforschen. Die treibende Kraft hinter diesem Historismus waren ausländische Historiker und Altertumsforscher: Nachdem erste Funde den Mythos des Selenen-Kults belegten, kamen Expeditionen ins Land, die hofften, mit einer großen Entdeckung viel Ruhm zu ernten. Nach gut 100 Jahren waren sich die Historiker jedoch einig, dass der Selenismus schon vor der Conquista nur ein Mythos gewesen sei und die Ruinen offenbar von einer Seitenlinie der Inka erbaut worden waren. Dennoch hatten die Expeditionen starken Einfluss auf Narracions Kultur: Viele Forscher blieben für immer und begründeten eine Tradition der Geschichtsforschung (eine von vielen Folgen war die Gründung der Fakultät für Altertum an der LaBotta-Universität, die Archäologie, Kunst- und Literaturgeschichte sowie klassische Geschichtsschreibung miteinander verbindet).





Während sich die Welt überall beschleunigte, ging in Narracion scheinbar alles seinen gewohnten Gang. Das Land blieb von Kriegen verschont und schien gegen Militärdiktaturen immun. Die große Industrie blieb aus, auch wenn die Wissenschaftler des Landes einen hervorragenden Ruf genossen. Neben den leicht aufblühenden Wirtschaftszweigen der Landwirtschaft und des Bergbaus taten sich allgemein die Ingenieurswissenschaften immer mehr hervor. Erstmals wanderten mehr Menschen aus Narracion aus als ein und suchten ihr Glück in den Industriestaaten.
Narracion war anders als seine Nachbarländer. Monokulturen und Raubbau waren vergleichsweise gering, Drogenmafia und ähnliche, große kriminelle Vereinigungen fassten in Narracion nie Fuß. Selbst die Touristenströme waren gering. An den vorhandenen Ausgrabungsstätten herrschten "Betreten verboten"-Schilder, und auch die Badetouristen bevorzugten Länder mit einer besseren Infrastruktur. Abgesehen von den "Großen Städten", Orten mit mehr als 1,5 Mio. Einwohnern, mit Flughäfen, Universitäten, Theatern, kleineren Industriegebieten und bescheidenen Touristenmärkten, lebte das Volk von Narracion in kleinen Städten, die über von Schlaglöchern übersäten und in der Regenzeit teilweise gar nicht zu befahrenene Straßen miteinander verbunden waren.
Mit dem Beginn eines globalen, ökologischen Bewusstseins setzten in Narracion strenge Gesetze ein: Ganze Landstriche, in denen eh kaum jemand zu leben schien, wurden zu Tabuzonen erklärt, in denen nicht gesiedelt werden durfte. Dank der stark verwurzelten Korruption im Land scherte sich niemand um das Tabu, solange es sich um kleine Ortschaften handelte. Große Bauunternehmen wie ein neues Straßen- oder Schienennetz blieben auf dem Papier.





Noch immer ist Narracion in großen Teilen dünn besiedelt. Die Bevölkerung ist gemischt: Neben den Nachfahren der Ur-Selenisten haben Europäer, Asiaten und Nordamerikaner in den letzten 600 Jahren in Narracion ihre Heimat gefunden. Nicht wenige Einwohner tragen Wurzeln aus vielen Ländern in ihrem Familienstammbaum. In den "Großen Städten" lebt eine breite Mittelschicht aus Angestellten, Handwerkern und Bildungsbürgern, während in den Kleinstädten die Einkommensgrenze eher gering ist. In den Dörfern finden sich diejenigen, die schon immer dort gelebt haben, und jene, die bewusst ausgestiegen sind - denn wenige Dörfer verfügen über alle Segnungen des modernen Lebens. Zusätzlich gibt es eine gewisse Anzahl an sehr wohlhabenen Menschen, die ihr Geld entweder durch Korruption, mit den Silberminen oder durch den Verkauf antiker "Inka"-Funde gemacht haben.
Der demokratische Staat ist verwaltungstechnisch in fünf Provinzen aufgeteilt. Eine Besonderheit ist die Provinz "Los Nó" an der Küste, die komplett unter Naturschutz gestellt ist - wer hier siedeln, bauen, verreisen oder ausgraben will, muss tief in die Tasche greifen. Da Verwaltung, Polizei und Gerichte traditionell durch Bestechungsgelder finanziert werden, ist es zumindest für zahlungskräftige Menschen kein Problem, einen Weg zu finden.
Obwohl die Kultur Narracions durchdrungen ist mit Mond- und Stern-Symbolen in der Kunst, mythischen Grundthemen in der Literatur, der Vier als widerkehrendem Moment in Architektur, Sprache und Musik, bringt dies niemand in Verbindung mit der immer noch als Kindermärchen geltenden Kultur des Selenismus. Dieser existiert nur im Geheimen, während die bestimmende Religion im Alltag das Christentum ist. Etwa 75% aller Einwohnerinnen und Einwohner bezeichnen sich selbst als Angehörige des Christentums, 15% machen die Angehörigen des Islams und des Judentums aus, die übrigen 10% verteilen sich auf hinduistischen, buddhistischen oder gar keinen Glauben (wobei Atheismus sehr selten vertreten ist).
Neuerdings gibt es Bestrebungen, den Massentourismus als neuen Wirtschaftszweig in Narracion zu etablieren. Noch scheitert dies an der starken Opposition der Umweltschützer sowie den um ihre Ausgrabungsstätten besorgten Wissenschaftlern, die ebenfalls eine starke Lobby in der Hauptstadt Primera haben.