von Narracion » Sa 19. Mai 2012, 00:50
, als der Mond voll am Himmel stand, dass die Königin eines mächtigen Reiches ein Kind gebar. Weil aber Krieg das Land bedrohte, wickelte sie es in Tücher, legte es in ein Körbchen und übergab es der Obhut des mächtigen Flusses und seiner Geister. Als Zeichen seiner Abstammung gab sie dem Kind einen Ring aus Silber, einen Dolch aus schwarzem Stein, eine Decke aus Jaguarpelz und ein bunt gewobenes Tuch mit vier Tropfen Blut aus ihrem Finger darauf mit.
Der Fluss trug das Kind in dem Korb durch viele starke Strömungen und Stürze, ohne dass das Kind davon auch nur geweckt ward. Als die Sonne aufging, verfing sich der Korb aber im Netz eines Fischers. Der war ein kleiner Geselle mit sonnengegerbtem Gesicht, der mit seinen drei Brüdern tagein, tagaus im Fluss seine Beute fing und sie abends am Lagerfeuer briet. Sie waren lustige, wenn auch derbe Gesellen, doch weil sie anderen nur bis an den Bauchnabel reichten, waren sie als Zwerge verlacht und lebten allein und mochten keinen anderen Menschen leiden.
Als der Zwerg nun den Korb mit dem Kind darin aus den Maschen befreit hatte und entdeckte, was sein heutiger Fang war, war er hin und her gerissen. Was scherte ihn das Kind fremder Menschen, das dem Fluss gegeben worden war? Am Ende würden sie noch kommen und es zurückverlangen. Doch als er es gerade zurück ins Wasser tun wollte, öffnete das Kind die Augen und lachte ihn an, und ihm ward warm ums Herz wie schon lange nicht mehr. "Ich will dich mit zu meinen Brüdern nehmen", sagte er, und so geschah es.
Die Brüder waren nicht glücklich mit der Entscheidung des Zwerges. "Was sollen wir mit einem Kind?", lamentierten sie. "Wer soll es säugen?", fragten sie. "Wie wollen wir uns schützen, wenn es zu schreien beginnt und die Jäger des Waldes herbeiruft?", fürchteten sie. "Wann sollen wir fischen, wenn das Kind uns alle Zeit braucht?" Doch der Zwerg, der es gefunden hatte, nahm das Kind aus dem Korb, und wie es zu lachen begann, war es auch um die Herzen der anderen Zwerge geschehen. Weil es ein Mädchen war und die Haut noch weiß wie Milch, da sie die Sonne noch kaum kannte, ward es Bianca geheißen.
Die Zwerge fingen eine Capybarasau, die säugte Bianca, und wickelten sie nachts in die Jaguardecke ihrer Mutter. Dabei entdeckten sie, dass die Decke magische Kräfte besaß: Wer darin lag, dem fielen die Augen zu, und er schlief tief und lautlos. Sie betrachteten auch die anderen Gegenstände genau und fanden heraus, dass der Dolch mit der schwarzen Klinge selbst Stein zerschnitt, und dass der silberne Ring in der Nacht leuchtete wie der Mond. Nur das Tuch schien keinerlei magische Kräfte in sich zu tragen.
So wuchs Bianca als eine der ihren unter den Zwergen auf. Sie lernte das Schwimmen und Fischen, sie lernte das Feuermachen und Braten, sie lernte das Singen und Tanzen und Musizieren. Jeder Zwerg liebte sie wie eine Tochter und achtete wohl darauf, dass ihr nichts zustieß und dass sie alle Zeit glücklich und zufrieden war. Doch je älter sie wurde, um so größer wurde sie, und schon bald ragte sie dem ersten, dann dem zweiten, schließlich dem dritten und zuletzt dem vierten Zwerg über den Kopf, und beim Schwimmen im Fluss sah sie sehr wohl, dass ihr Körper nicht dem der Zwerge glich. Das grämte sie sehr, und am Abend sang sie immer seltener und war insgesamt nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Die Zwerge erkundigten sich, warum sie so traurig sei, doch Bianca wollte es nicht sagen, und weil die Zwerge gar so sehr drängten, ging sie und legte sich schlafen, und sie deckte sich mit der Jaguardecke zu und legte ihren Kopf auf das gewobene Tuch, denn die Zwerge hatten ihr ein Kissen daraus gemacht.
Als aber der Mond auf sie schien, da begann das Tuch zu raunen, und nur wer schlief, konnte die Worte verstehen. "Königstochter, die der Fluss gebracht", sprach das Tuch, "es ist an der Zeit. Das Reich deiner Mutter ist gefallen, es liegt in der Finsternis unter der Erde gefangen, wo der Fluss aus den Felsen springt, und vier schwarze Schattenkriegern bewachen es, die alles verschlingen, was sich ihnen nähert. Nur du kannst das Reich deiner Mutter retten und wieder ans Licht bringen."
Am nächsten Morgen erwachte Bianca seltsam unausgeschlafen, und sie war blass wie der Mond. Die Zwerge fragten, was ihr im Traum wiederfahren war, doch wieder wollte Bianca nicht darüber sprechen. Sie sprach nicht beim Fischen und Schwimmen davon, nicht beim Feuermachen und Braten, doch sie sang auch nicht und tanzte nicht und musizierte nicht. Und wieder baten und bettelten und flehten die Zwerge, sie solle ihnen doch sagen, was sie bedrückte, und endlich konnte Bianca es nicht mehr ertragen, und unter Tränen und Seufzen brachen ihre Fragen und Sorgen aus ihr heraus: warum sie so anders aussah als die Zwerge und was wohl ihr Traum zu bedeuten hatte. Die Zwerge erschraken sehr; sie hatten nicht gewusst, dass Bianca eine Königstochter war, und sie fürchteten, sie nun zu verlieren, wo sie wusste, woher sie kam. Sie erzählten ihr aber dennoch, wie sie Bianca gefunden hatten, und nachdem sie gemeinsam alle sehr geweint hatten, fühlte Bianca eine Leichtigkeit in sich.
"Nun weiß ich, was ich tun muss", sagte sie, drückte die vier Zwerge und schenkte dem ersten den Ring, dem zweiten den Dolch, dem dritten die Jaguardecke und dem vierten ihr Kissen, und noch ehe der neue Tag gekommen war, brach sie auf, ihr Königreich zu befreien.