Irgendwo im Dschungel

[Dante Powell]

Während sie der Spur folgten, überlegte Dante, ob es ein so schlechtes Zeichen war, wenn Evans ihre Papiere mitgenommen hatte. Vielleicht führte sie sie immer mit am Körper. Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er je eine Ausbeulung in ihren Hosentaschen bemerkt hatte, die auf Geld und Ausweise hingewiesen hätten, oder daran, woher sie ihr Geld genommen hatte, als sie im Hafen bezahlt hatte. Und selbst wenn - wenn sie versucht hatte, sich abzusetzen, hätte sie doch sicher ihren Rucksack mitgenommen!

Langsam ging er die Lichtung ab, auf der Evans' Weg zuende gewesen war. "Ziemlich weit weg, um mal zu pissen", bemerkte er trocken, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben. Dichte Baumkronen, die nur ein winziges Stückchen Himmel sichtbar ließen - nach oben konnte sie jedenfalls nicht verschwunden sein; kein Hubschrauber hätte hier eine Leiter hinablassen können. Wenn er jetzt an Tarzan glauben würde, konnte sie natürlich noch von wilden Affen entführt worden sein - nur war das hier nicht Afrika, sondern Südamerika, und es war kein Abenteuerroman, sondern Realität. Und in der schaffte es nicht mal eine Nervensäge wie Evans, sich in Luft zu verwandeln. Was zur Hölle hatte sie hier überhaupt gewollt?
Zumindest waren sie hier schätzungsweise weit genug vom Fluss entfernt... "EVANS!" Eine wie die würde es sich doch nicht nehmen lassen zu antworten, wenn man nach ihr rief! Und wenn sie nicht antwortete, war sie bewusstlos, geknebelt (eine nette Vorstellung!) oder tot. Oder außer Hör- und Rufweite.

[Santiago]

cf: Unterer Lauf der Laete

Santiago hatte zufrieden und amüsiert das Chaos beobachtete, das auf dem Fluss ausgebrochen war, nachdem Dante das vordere Schlauchboot mit einem perfekt gesetzten Schuss versenkt hatte. Damit würde das Grüppchen erst mal eine Weile beschäftigt sein, so viel war klar. Als die ersten Schiffbrüchigen das Ufer erreichten, zog er sich leise und unauffällig in den Dschungel zurück. Luca würde sie schon informieren, falls die Expedition sich heute wider Erwarten nochmals weiter bewegen sollte. Erst mal würden sie wohl retten wollen, was zu retten war - und das würde nicht ganz einfach werden.

Mit einigem Abstand zum Ufer zündete sich Santiago eine Zigarette an und schlenderte gemächlich durch den Dschungel zu ihrem Lager zurück. Dass bereits die erste Intervention ein solch durchschlagender Erfolg geworden war, erfüllte ihn mit höchster Befriedigung und unterstrich nur, wie clever er sich sein Team zusammengestellt hatte. Doch als er beim Lager ankam, war da von besagtem Team keine Spur. Irritiert runzelte er die Stirn. Er hatte ihnen doch gesagt, sie sollten ins Lager zurück gehen. Hatten sie sich etwa verlaufen? Santiago griff nach seinem Satellitentelefon und wählte Healys Nummer. Nach einer kurzen Stille im Gerät, erklang der Rufton.

[Raphael Healy]

Wenn er geglaubt hatte, dass Evans ein unverschämt lautes Organ an sich hatte, dann hatte er Dante noch nicht gehört. Der war doch sonst so still, wo kam der Pfeffer im Arsch plötzlich her? Über ihnen flatterten irgendwelche aufgeschreckten Vögel in den Himmel, irgendwo knackte es wieder und einen Moment lauschten Beide angestrengt in die Stille hinein. Nichts, außer dem steten Grillenzirpen und Surren, das sie seit ihrer Ankunft im Dschungel begleitet hatte. Langsam machte sich allgemeine Verwirrung bei Raphael breit, auch wenn man es ihm nicht ansah. Ein Mensch konnte doch nicht so einfach vom Erdboden verschwinden. Schonmal gar nicht so’n ADHS Eichhörnchen wie Evans.

Er wollte grade zu einem weiteren, wenig hilfreichen Kommentar ansetzen, als das schrille Dudeln seines Satellitentelefons die Stille durchbrach. Überraschend, aber glücklicherweise nicht halb so laut wie das Gebrüll von ihrem gruppeneigenen Möchtegern-Tarzan. Gut, dass er das Teil doch mal angelassen hatte. Die Dinger sahen ungemein billig aus irgendwie, schienen aber ebenso unkaputtbar wie die guten alten Nokias, mit denen man noch die eigene Oma hatte erschlagen können. Ein kurzer, skeptischer Blick aufs Display, nachdem er das Ding aus seiner Hosentasche gefischt hatte, dann klappte er die Antenne aus und meldete sich mit einem etwas genuschelt klingenden „Ja?“, weil er nach wie vor die Kippe im Mundwinkel hängen hatte. Hatte der Chef seine Beobachtungen also beendet?

[Dante Powell]

Für den Bruchteil einer Sekunde war Dante fest davon überzeugt, dass es Evans war, die da anrief und mit dem aufdringlichen Klingelton ihr gebanntes Lauschen unterbrach. Gleich darauf erinnerte er sich an das zurückgelassene Telefon im Rucksack; damit war Evans raus, und es blieb eigentlich nur Santiago, der sich fragen würde, wo sie geblieben waren.
Er überließ es Healy, ihrem Boss zu erklären, warum und wohin sie verschwunden waren, und begann noch einmal systematisch damit, den Rand der Lichtung abzusuchen. Niemand konnte sich in Luft auflösen, selbst wenn man es sich noch so sehr wünschte. Die Hoffnung, dass er sich fortan nicht mehr mit Evans' voraussichtlicher Inkompetenz und Zickerei herumärgern musste, hüpfte zwar optimistisch in Dantes Brust - selbst wenn sie sie fanden, würde sie schon eine verdammt gute Erklärung brauchen, oder Santiago würde sie hoffentlich vom Rest der Reise ausschließen - aber einfach so zur Tagesordnung übergehen konnten sie ja auch nicht.
Etwas Buntes erregte Dantes Aufmerksamkeit, und er kniete sich auf den harten Waldboden. Tja, da war zumindest ein Beweis dafür, dass Evans hier gewesen war: Er pflückte das knallbunte Einpackpapierchen eines Lollis aus dem Wurzelwerk eines noch jungen Baumes und bückte sich noch etwas tiefer, um sich die Stelle genauer zu betrachten. Wo es einen Hinweis gab, versteckte sich ja manchmal noch ein zweiter...

[Santiago]

Immerhin, Healy reagierte, das war ja schon mal etwas. Santiago konnte es nicht ausstehen, wenn Leute, die erreichbar sein sollten, nicht erreichbar waren - und das kam öfter vor, als man so gemeinhin erwarten würde. "Healy. Wo zum Teufel seid ihr?" Dass Evans spurlos verschwunden war, konnte er natürlich nicht ahnen. Aber als kurz darauf die Erklärung für das mysteriöse Verschwinden seines Teams durch den Hörer kam, runzelte er die Stirn.

"Verschwunden? Wirklich? Ist ja merkwürdig." Hatte die Dame etwa kalte Füsse bekommen? Oder waren diese grossen Raubkatzen verbreiteter und aggressiver als er erwartet hatte? Immerhin schienen die beiden eine Spur gefunden zu haben. "Gut, dann schaut mal, was ihr findet. Aber seht ihr zu, dass ihr spätestens bei Einbruch der Dunkelheit zurück im Lager seid, mit oder ohne Evans." Bis dahin würde sich bei der Expedition kaum gross weiter was ereignen, die waren erst mal mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Und falls doch würde Luca es ihm brühwarm berichten. Dieser Canalli-Neffe war nützlicher als er erwartet hatte.

Santiago beendete das Gespräch, setzte sich auf einen Baumstrunk, nahm einen grossen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und studierte dann die Landkarte von der Gegend hier nochmals intensiv, spekulierend was für mögliche Pfade der Professor wohl einschlagen würde.

[Raphael Healy]

Möglicherweise hätte er etwas ausführlicher erklären können, wie die Lage war, als mit einem bloßen „Jah, Evans ist verschwunden und wir schaun grad, wo sie hin ist“, aber wozu viele Worte verschwenden? Merkwürdig war das Ganze durchaus, aber das Weib konnte ja nicht vom Erdboden verschluckt sein. Eigentlich. Mit einem simplen „Alles klar, Chef“, beendete er das Gespräch und grübelte einen Moment, wie enorm eine Handyrechnung wohl ausfallen würde, wenn man nur mit diesem blöden Ding telefonierte, bevor er Powell wieder seine Aufmerksamkeit schenkte. Irgendwas schien der da gefunden zu haben.
„Was ist das?“ Er trat näher, während er das Funktelefon wieder verstaute und sah Dante neugierig über die Schulter. Bonbonpapier? Anscheinend futterte die Frau selbst dann Süßigkeiten, wenn sie von wilden Affen entführt wurde. Ein paar Schritte weiter fand er den passenden Stiel zum Lolli, aber keinen weiteren Hinweis, in welche Richtung sie gegangen sein könnte. Etwas ratlos kratzte er sich im Nacken. „Wieso sollte sie einfach so abhauen, ohne irgendwem was zu sagen?“ Das alles machte absolut keinen Sinn.

[Dante Powell]

Wortlos hielt Dante Raphael das Papierchen entgegen, neigte den Kopf fast bis zur nicht existierende Grasnarbe des Bodens, kniff die Augen halb zusammen und verzog schließlich das Gesicht. Er sah einfach keinen Unterschied! Hatte jetzt jemand hier gehockt, den Lolli gelutscht und auf irgendwas oder irgendwen gewartet? Hatte ein Kampf stattgefunden? Aber dann hätten doch kleine Zweige umgeknickt worden sein, ein bisschen Stoff oder Haare könnten sich im Astwerk verheddert haben, Blut oder sonst irgendwas hätte sichtbar sein müssen - aber nichts! Jedenfalls nicht für ihn.
"Wo nichts sagen doch auch gar nicht Evans' Ding ist", brummte er missmutig und richtete sich auf. Sie übersahen irgendwas! Irgendein Puzzleteil fehlte! Aber solange sie die Spur, die doch irgendwo sein musste, nicht fanden, vertrödelten sie hier nur ihre Zeit. "Sie war auf jeden Fall hier. Oder ein anderer Lollifan." Er steckte das Bonbonpapier nachdenklich in seine Hosentasche. "Hat vermutlich gewartet. Auf was oder wen auch immer. Und dann - ist sie vaporisiert worden?" Er zuckte fragend mit den Achseln. Gab es wohl Rückstände nach dem Vaporisieren?

[Raphael Healy]

Vermutlich war das sang- und klanglose Verschwinden von Evans wirklich noch eigenartiger, als das Verschwinden an sich. Die Frau hatte alles andere doch auch bisher groß angekündigt. „Das sie auf irgendwen gewartet haben könnte, klingt irgendwie besorgniserregend.“ Bemerkenswerterweise sprach er das aus, ohne dabei auch nur im Geringsten besorgt zu wirken. Tatsächlich zog er eher gelangweilt an der, beinahe vergessenen, Zigarette. Freiwillig entführen würde niemand dieses Weib. Zumindest nicht, ohne sie nach spätestens einer Stunde wieder zurückzubringen und sich vielmals für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.
„Santiago meint wir sollten spätestens bei Nachteinbruch zurück sein, aber irgendwie sieht’s hier nicht so aus, als würden wir großartig weiterkommen.“ Es war nichts mehr da. Kein umgeknickter Farn, keine Fußspuren, keine Bonbonpapierchen mehr oder Verpackungen sonstiger Süßigkeiten... entweder sie hatten sich irgendwas eingebildet und Evans war nie hier gewesen, oder irgendwer, egal ob Evans selbst oder jemand anderes, war geschickt darin Spuren zu verwischen. Vielleicht schlug ihnen auch einfach nur die schwüle Luft aufs Gemüt.

„Zurück zum Camp?“ Fragend sah Raphael zu Powell rüber, während er den letzten Zug an der Kippe nahm und sie dann achtlos in die Botanik schnippte. Hier waren Pflanzen und Erde sowieso so feucht, dass er sich nur wenige Gedanken um einen eventuellen Waldbrand machte.

[Dante Powell]

Dante hob skeptisch eine Braue. Sonderlich besorgt klang der ja nun nicht. Dabei war das wirklich ein unschöner Gedanke. Wer wusste schon, dass sie hier draußen waren, abgesehen von ihrem Auftraggeber - und ihrem Maulwurf? Ob Emily sich womöglich mit dem...? Vielleicht hatte sie die Identität des Maulwurfs nicht interessiert, weil sie ihn schon kannte. Aber was brachte es schon, sich darüber das Hirn zu zermatern?
"Hier werden wir jedenfalls nichts ausrichten", erwiderte er zustimmend zu Raphaels Vorschlag, zurückzugehen. Es gefiel ihm zwar nicht, mit ganz leeren Händen und nur Fragen statt Antworten zurückzukommen, aber der Gedanke, Evans jetzt vielleicht nicht mehr ertragen zu müssen, der hatte was. Und es war klüger, Santiago jetzt zu sagen, dass sie jede Spur verloren hatten, als sinnlos Zeit zu verplempern.
"Vielleicht finden wir in ihrem Gepäck noch einen Hinweis." Er zückte wieder die Machete. Dieser Urwald hatte viel von der Dornenhecke aus Dornröschen: Kaum hatte man sich einen Weg gehackt, schloss der sich wieder hinter einem. Zumindest kam Dante das so vor. "War da außer Unterwäsche noch was drin?" Fragend blickte er Raphael an, während er sich zu jenem Ende der Lichtung bewegte, an dem sie sie betreten hatten.

[Raphael Healy]

„Süßkram, irgendwelche Comics, Klamotten, Waschzeug, nichts sonderlich Interessantes.“ Wobei er sich im Stillen ja immer noch fragte, wozu in der Welt Evans dermaßen viel Unterwäsche mit sich herumgeschleppt hatte. Schlicht natürlich, aber wer konnte auch schon erwarten, dass eine Frau hier draußen einen auf Lara Croft machte und in Spitzenunterhöschen durch den Dschungel stratzte. Wär vielleicht auch zu viel für die schwache Männerlibido geworden. Er blieb mehr oder minder in Dantes Windschatten und ließ Tarzan die Hackarbeit machen. Nicht weil er selbst zu faul gewesen wäre, aber wenn der so gern vorstratzte, musste er sich nicht die Mühe machen.
„Wart’s mal ab, am Ende ist Evans wieder wohlbehalten im Camp und wir Idioten sind umsonst losgedackelt.“ Passte hin und wieder zu seinem Glück, wobei er dann vermutlich nah dran wäre, die gute Emily zu erwürgen. Er hielt noch weiterhin die Augen offen, für den Fall das sie irgendwann einfach eine falsche Abzweigung genommen oder irgendwas übersehen hatten, aber da war tatsächlich nichts mehr. Zumindest nichts, was darauf hinweisen könnte, dass ein Mensch hier im Unterholz unterwegs gewesen war. Mal abwarten was Santiago zu der Sache sagen würde.