Tunnel

[Narracion]

Etwa zwanzig Minuten benötigt man, um den Tunnel zu durchqueren, der von der Schlucht zum Kreis der acht Königinnen führt. Er beginnt hinter der Spalte am Teich und endet ebenerdig im Dschungel. Am jeweiligen Beginn ist der Boden noch uneben, die Decke nur anderthalb Meter hoch, die Wände rau und unbeschlagen, doch die lange Zeit, die die Selenisten den Tunnel schon als Abkürzung auf ihrem Weg zum Tempel nutzen, zeigt ihre Spuren. Den Großteil des Bodens haben elementare Kräfte und zahlreiche Füße geglättet, die Decke ist fast zwei Meter hoch, die Wände geebnet, sodass niemand sich im Vorbeigehen Schürfwunden holt, und teilweise wurden auch Zeichnungen an die Wände gebracht. Modernen Taschenlampen sei Dank gibt es kaum noch Rußspuren an den Decken, allerdings ist ein kleiner Ablauf, der verhindert, dass es genau in der Mitte von der Decke tropft, und der das Rinnsal, das den Teich speist, an den Rand des Tunnels leitet, ein weiteres deutliches Zeichen für menschliche Manipulation.

Während das Ende in der Schlucht kunstvoll verborgen wird, wächst das ebenerdige Ende im Dschungel ungehindert zu und wird zu den entsprechenden Zeiten mit dem Hackmesser freigelegt.

[Narracion]

[May Comida]

May stützte sich mit einer Hand in der Hüfte ab, während die andere Mays Stirn mit einem Taschentuch abtupfte. "Im Dschungel ist es doch um einiges feuchter."
Sie schüttelte den Kopf. Ja selbst ihr Haar merkte den Feuchtigkeitsgrad. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie steif und fest behaupten, dass ihre Locken noch um ein zehnfaches lockiger waren als noch heute morgen.
"Man kann sich darauf noch so sehr gedanklich vorbereiten, es trifft einen doch immer wie ein Schlag." Heiß war ja schon eine Sache, aber heiß und feucht - die Hölle. Als würden sie in einer Sauna leben.
"Auf heiß und trocken kann man sich ja wenigstens noch vorbereiten. Fön ins Gesicht halten. Aber das hier." May schüttelte entschieden den Kopf, während sie seufzend auf das Hackmesser zu ihren Füßen blickte.

[Allegra Dominguez]

cf: Vortag

Allegra versuchte, das Schmunzeln aus ihrem Gesicht zu verbannen, als sie sich zu May umwandte. Die hier gewachsenen Pflanzen waren ziemlich hartnäckig - hartnäckiger als die Pflanzen in ihrem Garten auf jeden Fall. Bei denen hatte Allegra das Gefühl, sie brauchte sie nur anzusehen, und gleich darauf würden die Blätter schlaff und farblos. Hier war das etwas vollkommen anderes. Hier schienen die Pflanzen eher die Kräfte einer Hydra zu haben: Wo sie eine störrische Ranke abhieb, wucherten gleich zwei Neue.
"Wir könnten uns eine kleine Pause gönnen und etwas trinken", schlug sie May vor. "Immerhin", sie deutete auf den kleinen Hügel massakrierten Grünzeugs, der einen erschreckend kleinen Teil des Tunneleingangs bisher freigelegt hatte, "sind wir schon ziemlich weit gekommen." Zumindest versuchte sie, so zu klingen. Etwas Zuversicht konnte hier nicht schaden. Sie tröstete auch über den Umstand hinweg, dass sie trotz Meditationen in der letzten Nacht zum Warten verdammt waren - warten auf die Ankunft der beiden anderen Priesterinnen, deren Nähe Allegra geglaubt hatte zu spüren, und warten auf die Rückkehr der Tempelwächter, die nach den Fremden Ausschau hielten. Nur deshalb blieb dieses Gehacke ihnen vorbehalten. Hoffentlich kamen sie früh genug zurück, um den Stein am anderen Ende des Tunnels auszuweiten - das war immer eine Heidenaufgabe, für die es möglichst viele Tempelwächter brauchte, deren elementaren Kräfte doch besser waren als zumindest Allegras.

[May Comida]

"Eine kleine Pause.. Dieser Vorschlag hätte fast von mir sein können." May zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen, während sie sich schon mal die Hände aneinander sauber rieb. Irgendwo musste sie doch auch noch feuchte Haushaltstücher haben.. May ließ das Messer Messer sein und klopfte ihre Taschen ab, bevor sie ihre Hände vor Staub und Pflanzenteilchen rettete.
"Und nach dem Trinken sollten wir das Grünzeugs vergraben, verbrennen oder sonst wie ein Zeichen setzen, dass dieses Zeug einen unglaublich auf den Wecker fallen kann." Fügte May hinzu, wobei ihre amüsiert glitzernden Augen verrieten, dass sie längst nicht so erbost war wie sie eventuell wirken könnte.
Aber jetzt würde sie erstmal ein wenig Braunzeugs verbrennen. Mit einem genüßlichen Lächeln steckte sie sich Spitze und Zigarette zwischen die Lippen und zündete sich den Tabak mit einem Streichholz an, das sie dann mit aller Vorsicht auspustete. Im Dschungel ein Feuer entfachen - keine gute Idee.

[Allegra Dominguez]

"Klingt, als hättest du den Dschungel so lieb gewonnen, dass du bald einen kleinen Erholungsurlaub im Tempel verbringen möchtest", grinste Allegra, angelte ihre Feldflasche von einem Ast, an dem sie sie aufgehängt hatte, und ließ sich damit auf einer gigantischen Baumwurzel etwas abseits des Tunneleingangs nieder. Eiskalt war das Wasser natürlich nicht, aber darauf hätte ihr Magen sicher auch unleidlich reagiert.
"Vielleicht verträgt unser Kräutergarten das Zeug auch als Dünger." Zweifelnd kratzte Allegra sich am Kinn. "Zumindest würden sich die Jungs sicher freuen, wenn es da auch so wild und schnell wächst." Irgendwie hatte sie ja das Gefühl, dass die Arbeit leichter war, wenn die Tempelwächter dabei waren. Javier versicherte zwar stets, bei der Arbeit hier keine Fähigkeiten zu nutzen, aber bei den beiden anderen war sich Allegra nicht so sicher.
Sie betrachtete die kleine Rauchfahne, die aus Mays Zigarettenspitze emporzüngelte, und verbot sich energisch, es der Kollegin gleich zu tun. Wenn sie im Tempel nicht dauernd vor die Tür laufen wollte, musste sie sich an ihre mit sich selbst ausgehandelte Menge an Zigaretten halten, und die nächste stand erst nach den Gewittern wieder auf der Agenda. Oder vielleicht gönnte sie sich eine zur Belohnung, wenn ihr Tun hier erst einmal getan war.

[May Comida]

"Ach der Dschungel und ich.. Wir sind wie Katz und Maus. Jagen uns die ganze Zeit herum und treiben uns den Schweiß auf die Stirn." Stopp mal, eigentlich war nur sie die Gejagte. Aber keine Zeit, um kleinlich zu werden. "Aber letztlich.. Können wir ja doch nicht ohne einander."
May zuckte mit den Schultern, während sie amüsiert ihre Lippen verzog und sich der Brandgefahr und der Last der Beweise bewusst die Asche ihrer Zigarette ordentlich an ihrem Reiseascher abtippte.
"Und du willst wirklich das Zeug in den Kräutergarten tragen?" Skeptisch verzog May ihre Augenbrauen. Das konnte die gute Allegra doch wohl kaum ernsthaft vorschlagen wollen. Alles den ganzen Weg schleppen? Und womöglich auch noch steile Wege damit beschreiten? Um Selen Willen.
Achja, das waren die Zeiten, wenn sie den Dschungel genoss, die Zeit in der sie leichte Geplänkel mit Allegra austauschte, die Ruhe vor dem Sturm, irgendwie eine Zwischen-Zeit.

[Allegra Dominguez]

"Wenn es ansteckend ist, ja." Allegra nickte ernsthaft, nahm einen Schluck aus ihrer Flasche und blickte May mit einem ganz leichten Zucken in den Mundwinkeln ins Gesicht. "Wenn ich sie berühre, verwandeln sie sich aber leider in etwas Schwarzes, das am Boden eines Topfes klebt. Also wirst du sie wohl tragen müssen. Das macht dir doch nichts aus?" Sie hob fragend die Brauen, während sie noch einen tiefen Schluck nahm und dabei ihr Grinsen mit der Flasche verdeckte.
Für einen Moment stellte sie sich vor, wie die Tempelwächter tatsächlich darauf reagieren würden, wenn sie ihnen den Garten mit abgestorbenen Pflanzen vollpackte - nun, sie könnte damit zumindest ihren Ruf eines wandelnden schwarzen Daumens gerecht werden.
"Oder wir lassen es hier gären, bis Ruby kommt und daraus etwas machen kann, was sich leichter zu transportieren lässt. Unkrautschnaps oder so etwas." In einigen der Bücher, die sie vor allem in ihrem letzten Leben in der Stadt gelesen hatte, waren häufiger diese Geschichten über Unkrautjäten vorgekommen, und wann immer Allegra in dieses wilde grüne Wuchern blickte, stellte sie sich die Gärtnerinnen und Gärtner aus ihrer Lektüre mit einem lächerlich kleinen Rechen und einer Hacke vor, wie sie fassungslos das betrachteten, was nur nach Dschungelmaßstäben eine 'kleinere' Pflanze war. "Ansonsten lassen wir es liegen; das tritt sich fest."

[May Comida]

May höre Allegra ungläubig zu. Nun, sie hatte noch nie sehr viel Zeit im Dschungel verbracht und normalerweise übernahmen die Tempelwächter mit ihnen die Aufgabe, den Tunnel freizulegen. Und sie blieb meistens nur solange bei dieser Aufgabe, wie es die Höflichkeit bot. Keine Ahnung, ob Allegra das wirklich ernst meinte.
Da zog sie lieber noch mal an ihrer Zigarettenspitze. Ob man das Zeug vielleicht rauchen konnte? Nein, dann würde Allegra nicht so oft auf Zahnfleisch gehen.
May konnte ihre Erleichterung kaum verbergen, als Allegra den letzten Vorschlag machte: "Ich bin mir sicher, es tritt sich fest." Entschieden drückte sie ihre Zigarette in ihrem Reiseascher aus, klappte den zu und ließ ihn in eine der Taschen verschwinden.
"Ist dir schon schon einmal aufgefallen, dass dein Daumen und dein Humor Gemeinsamkeiten haben?" May grinste ihr schiefes Grinsen und stützte sich mit einer Hand in ihrer Hüfte ab.

[Allegra Dominguez]

Mit gespielter Überraschung hob Allegra ihre Hand und begutachtete ihren Daumen, der von der Arbeit mit den Pflanzen eine freundlich-braune Färbung bekommen hatte. "Sie sind beide formschön und könnten derzeit etwas Wasser gebrauchen?" Sie lächelte und verschloss ihre Feldflasche wieder sorgfältig, ehe sie sie wieder auf den Platz tat, von dem sie ihn zuvor genommen hatte. Sie hätte zwar noch gut und gern ein wenig länger Pause machen können, zumal May ihre Zigarette und damit auch den drohenden Schmacht auf einen tiefen Zug gelöscht hatte - aber sie wollte zumindest das Etappenziel vor den Gewittern erreichen!
"Wir sollten uns wieder an die Arbeit machen; ich möchte nachher noch die Schutzrunen an den acht Königinnen erneuern." Es war zwar unwahrscheinlich, dass Fremde tatsächlich bis zu den Königinnen vordrangen - vor allem, solange der Tunneleingang noch verschlossen war - aber sicher war sicher, und bei ihren beunruhigenden Visionen ging Allegra lieber auf sicher-sicher-sicher.