Irgendwo im Dschungel

[Narracion]

Durch die Laubkronen der Urwaldriesen und Bäume mit ihren mächtigen Stämmen dringt selbst zur Mittagszeit nur ein diffuses Zwielicht. Hier unten wachsen Farne und Bromelien, jüngere Bäume, die bis zu fünf Metern hinaufragen, und teils dorniges Strauchwerk. Umgestürzte Baumriesen sind von dickem Moosteppich und fremdartigen Pilzkolonien überwuchert und faulen vor sich hin, und manche Stegwurzel eines Baumes bildet einen natürlichen Bogengang. Die Geräusche der Papageien- und Affenkolonien aus den Kronen dringen herunter, manchmal auch das raue Gebrüll eines Raubtiers. Wer sich still auf den Boden setzt, wird mit der Zeit gewahr, dass ihn hunderte von Kleinstlebewesen umgeben: Käfer und Insekten, die fast perfekt getarnt sind, Schmetterlinge und Ameisen, Vögel und Echsen. Doch für die meisten Wanderer, die sich durch Unterholz, herabhängende Lianen oder meterhohen Farn kämpfen müssen, bleiben sie unsichtbar.

[Narracion]

[Dante Powell]

cf: Unterer Lauf der Laete

Dante folgte Raphael ungefähr den Weg zurück, den sie vom Lager zur Laete genommen hatten, aber da der Dschungel hier schneller zu wuchern schien, als man 'Grünschnitt' sagen konnte, war selbst das kein Spaziergang. Er fühlte sich ziemlich gut, und zu gern hätte er sich die Meinung seines Vormannes über seinen Schuss eingeholt - ein wenig aus Eitelkeit und dem Wunsch heraus, ihn zugeben zu hören, dass Dante eine gute Wahl als Schütze gewesen war, andererseits aber auch aus professionellem Interesse heraus. Raphael war schließlich ein echter Spezialist auf dem Gebiet; Dante verstand sich zwar auch, aber eben nicht nur aufs Schießen. Womöglich hatte der Ältere ja noch einen nützlichen Tipp für ihn.
Doch statt zu fragen folgte er ihm schweigend, bis sie den umgestürzten Baum erreichten, an dessen Flanke sie in der letzten Nacht spät ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die Zelte waren bereits wieder als Marschgepäck zusammengeräumt, und in der Feuerstelle glomm keine Glut mehr - alles schien bereit zum Aufbruch, sobald Santiago zu ihnen stieß und neue Befehle gab.
Dante runzelte die Stirn. Alles war an seinem Platz, außer.. "Wo steckt denn Evans?" Müsste die jetzt nicht um sie herumhüpfen und sie fragen, wie es denn gelaufen war?

[Raphael Healy]

c.f: Unterer Lauf der Laete

Er ignorierte Dante nicht mit Absicht, auch wenn es momentan vielleicht so aussah. Seine Grummelei galt eher Santiago, der hier vielleicht den Spaß seines Lebens hatte, aber Raphael dummerweise eben nur wenig erpicht darauf war, im Knast zu landen weil das Greenhorn hinter ihm anscheinend so gut schießen konnte wie seine Großmutter. Und die hatte ihr Leben lang die Tauben von der Mauer des Vorgartens runtergeschossen und selten getroffen. Er tat den gelungenen Schuss als Anfängerglück ab und befreite den Weg weiter von Unkraut und Lianen, ohne sich nur einmal nach Dante umzudrehen. Der Kerl war tough, der kam schon hinterher.

Am Camp angekommen, fiel ihm Evans Abwesenheit zuerst gar nicht auf. Er bediente sich direkt zuerst an seiner Wasserflasche, trank allerdings sparsam und wischte sich dann mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, bevor er sich – auf Dantes Worte hin – erstaunt umsah. Tatsache. Evans war weg. „Vielleicht für kleine Chemikerinnen, oder sowas“, er zuckte nonchalant mit den Schultern. „Die taucht schon wieder auf.“ Vielleicht hatte sie auch eine dieser Großkatzen erwischt, wobei er damit weniger rechnete. Am Tag schienen die Viecher sehr viel scheuer zu sein als in der Nacht und am Morgen war Evans definitiv noch im Camp gewesen. Da hatte sie ihn nämlich über diverse Comiccharaktere vollgequatscht, die er alle nicht kannte, und ständig versucht ihm irgendwelche Bonbons anzudrehen, die er nicht mochte.

[Dante Powell]

Dante verzog das Gesicht. "Muss man wohl von ausgehen", brummte er halblaut. Mit ein bisschen Glück würde sie ihnen lange genug vom Leib bleiben, dass Santiago bis dahin wieder zurück war; dann würde sie wenigstens nicht vor Langeweile mit dem Plappern beginnen - auch wenn sie sich zuletzt ja Raphael als Opfer auserkoren und der ihm somit ein intaktes Trommelfell bewahrt hatte. Es wurde mit zunehmender Zeit einfacher verdammt schwierig, Evans Wortschwall schweigend zu ertragen und ebenso schnell aus dem einen Ohr raus- wie aus dem anderen herein zu lassen.
Er holte eine spezielle Tragetasche von seinem Gepäckhaufen, dann nahm er sein Gewehr vom Rücken und setzte sich mit beiden auf eine Wurzel, um das Gewehr fachmännisch zu zerlegen - insbesondere Schalldämpfer und Zielfernrohr abzuhauen - und zu reinigen. Natürlich wäre es gegen eine Großkatze wesentlich besser geeignet, aber zum einen fühlte Dante sich in der Rolle eines potentiellen Jägers unwohl, und zum anderen war er mit der Pistole einfach schneller. Man konnte sie eng am Körper tragen, sie war nicht so umständlich wie ein Gewehr, und ihr Gewicht in seinem Halfter verlieh ihm Sicherheit.

[Raphael Healy]

Er war ja gespannt, was genau Santiago da noch beobachten wollte. Vermutlich nur die Planscherei und das noch voller Schadenfreude. Aus dem Augenwinkel betrachtete er immer wieder Dante dabei, wie der am Gewehr rumschraubte und packte nebenbei sein eigenes Marschgepäck nochmal um. War’s eigentlich sehr vielsagend, dass er mehr Munition als Klamotten dabeihatte?
Die Minuten verstrichen, um sie herum zirpte und knackte es und bei jedem größeren Krachen sah er sich einen Moment um. Dämliche Raubkatze. Aber nichts erschien aus dem Dickicht. Dummerweise auch nicht Evans. Raphael warf einen Blick auf seine Uhr und runzelte die Stirn.
„Also... entweder hat Evans sich ne Blasenentzündung oder Dünnschiss eingefangen, oder sie ist verschwunden.“ Beides war nicht sonderlich wünschenswert. Er sah fragend zu Dante rüber. „Ab wann geht man jemanden im Dschungel suchen?“ Und wieso war ihr Chef grade nicht da?

[Dante Powell]

Dante registrierte die Geräusche um ihn herum, zuckte aber kaum. In der letzten Nacht hatte er tief und fest geschlafen - zumindest in der Zeit, die Santiago ihnen dazu zustand - obwohl irgendein Tier, vielleicht Affen oder eine dieser Raubkatzen, nicht weit von ihnen entfernt ein ziemliches Konzert gegeben hatte. Womöglich war es auch nicht einmal in ihrer Nähe gewesen; Dante hatte die Vermutung, als würden die Geräusche zumindest nachts ziemlich weit getragen.
Er genoss die evans-freie Ruhe und dachte sich im Stillen, dass so ein Unternehmen ohne weiblichen Anhang herrlich unkompliziert war, bis Healy ihm alles versauen und Panik schieben musste. Und er dachte, man sagte nur zu Frauen, sie sollten es durch Quatschen nicht kaputt machen.
"Hat sich vermutlich verlaufen." Er zuckte mit den Achseln, stand auf und holte sein Satellitentelefon aus dem Rucksack. Santiago hatte jedem von ihnen eines gegeben, und wenn die Dinger Empfang hatten, konnte man damit sogar zueinander finden. Ziemlich praktisch. Dante hatte seines allerdings meist ausgeschaltet, um die Batterien zu sparen. Wie er Evans kannte, fand sie das unkommunikativ. "Rufen wir sie an." Er schaltete das Gerät ein und starrte dann hypnotisierend auf den kleinen Empfangsbalken. Ein Strich würde ja schon genügen. Aber irgendwie.. ah! Da!
Er suchte im Adressbuch nach Evans Nummer und hielt sich das Gerät dann mit einem kleinen Sicherheitsabstand ans Ohr - nicht, dass sie hineinkreischte, weil sie das witzig fand, oder ähnliche Scherze. Doch kaum hörte er ein Freizeichen, begann auch eine fröhliche Melodie gar nicht so weit von ihnen entfernt zu erklingen - und sie kam geradewegs aus Emilys Marschgepäck.

[Raphael Healy]

Zugegeben, sein Telefon hatte Raphael schon wieder völlig vergessen. Wenn man von diversen Sicherheitsdiensten weltweit gesucht wurde, war man dankbar über jegliche Anonymität, weswegen er’s auch nicht gewohnt war, Sachen mit sich rumzuschleppen, die per GPS ortbar waren. Kein Wunder also, dass er nicht im Traum daran dachte Evans anzurufen. Hatte dieser Powell also doch was im Köpfchen, wer hätte es gedacht? Raphael war eigentlich nah dran gewesen, den Jüngeren als dumm und muskelbepackt abzustempeln.
Abwartend lehnte er sich mit den Ellebogen auf seine Knie und betrachtete Dante aufmerksam. Kriegte er das Ding überhaupt... aha! Tatsache, er bekam es an. Wunder über Wunder. Musste an dieser ganzen mystischen Inka-Magie liegen, anders konnte er sich Dantes Geistesblitz nicht erklären. Anfangs tutete bloß Dantes Telefon, dann klingelte es... direkt aus dem Rucksack neben seinem. „War ja klar“, kam’s wenig begeistert von dem Scharfschützen. Er hatte eigentlich absolut keine Lust, jetzt durch den Dschungel zu stapfen und Evans zu suchen. Aber konnten sie wirklich so unkameradschaftlich sein?
„Santiago bringt uns um, wenn dem Mädel irgendwas passiert.“ Seufzend richtete er sich auf und schulterte den frisch umgepackten Rucksack. „Na komm, krieg deinen Arsch in Bewegung. Das Weib ist blöd genug um nicht wieder zurückzufinden.“ Womit Raphael vermutlich das ausgesprochen hatte, was Dante sowieso schon länger dachte.

[Dante Powell]

Raphael nahm ihm die Worte aus dem Mund: Das war wirklich klar gewesen. Warum auch sollte Evans irgendwas richtig machen, nämlich so, dass sie ihretwegen mal keinen Stress hatten? War sie da, brachte sie sein Trommelfell kurz vor den Selbstmord; war sie nicht da, war's auch nicht das Gelbe vom Ei, weil man niemanden zurückließ, solange nicht klar war, dass der einen nicht mehr verpfeifen konnte.
Dennoch hob Dante skeptisch die Braue. Wer von ihnen stand hier denn schon, und wer hockte noch auf seinem Hintern? Und warum zum Henker sollte Santiago irgendeinem von ihnen die Schuld in die Schuhe schieben, wenn Evans zu blöd war, um pissen zu gehen, ohne sich dabei den Hals zu brechen oder in den Fluss zu fallen oder die Orientierung zu verlieren? Weiber!
Dante ließ sein Telefon eingeschaltet - nur für den Fall, dass Santiago ins Lager zurückkam, während sie noch auf der Suche nach Evans waren - und verstaute es in der Hosentasche. "Wird er nicht", entgegnete er ruhig, nahm aber dennoch seinen Rucksack hoch auf den Rücken und zückte seine Machete, um Raphael zu signalisieren, dass es seinetwegen losgehen konnte. Dschungel hieß immer Weg freischlagen. Und vielleicht verriet ihnen das ja auch, wohin Evans verschwunden war.
Aufmerksam ging er dorthin, wo Evans Rucksack stand, und suchte nach Spuren wie Fußabdrücken (für die der Boden allerdings nicht weich genug war) oder abgeschlagenes Grünzeug. Ah, da vorne... Bingo.
"Hier", sagte er und deutete auf deutliche Schnittspuren im schulterhohen Farn.

[Raphael Healy]

Nur damit man ihn nicht falsch verstand, er machte sich weniger Sorgen darum, dass Santiago sich für Evans allgemeine Gesundheit interessierte, sondern eher darum, dass die Missy ausgezogen war um sonstwas anzustellen. Im schlimmsten Falle war sie gradewegs auf dem Weg zur Expedition oder zur Landespolizei um die Kollegen zu verpfeifen und sollte das der Fall sein, und Dante und er hatten nichts dagegen getan, dann würde Santiago ihnen noch nach dem Knast den Arsch aufreißen.
„Kommt drauf an, was sie grade anstellt“, kam daher auch die etwas flapsige Antwort. Er wollte einfach nicht den Kopf hinhalten, für eventuellen Scheiß den Evans anstellen konnte. Bevor sie also loszogen, widmete er sich nochmal Evans Rucksack, zupfte schamlos BHs und Slips zwischen anderen Klamotten raus, stopfte dann alles wieder zurück und stand wieder auf. Wie gedacht... „Ihre Papiere sind weg.“ Entweder hatte sie die Sachen zur Sicherheit zum Pinkeln mitgenommen oder – jah.
Rucksack und Barett über der Schulter, die eigene Machete gezückt, stapfte er also Dante hinterher in den Urwald und konnte sich weitaus schöneres vorstellen, als mit dem Affen im Dschungel spazieren zu gehen. So langsam vermisste er ein kühles Bierchen oder sowas.

Ein Weilchen konnten sie Evans Spur abgehauener Pflanzen und Farne folgen, dann verloren sich die Hinweise allerdings auf einer kleinen Lichtung. Keine umgeknickten Zweige mehr, keine Fußspuren, kein abgehacktes Grünzeug mehr. Raphael seufzte und zündete sich die gefühlte zwanzigste Zigarette an. Gar nicht so leicht bei der hohen Luftfeuchtigkeit. „Und damit wären wir an dem Punkt angelangt, an dem die Katze sie gefressen hat.“ Schön wär’s, dann könnten sie wenigstens aufhören zu suchen.